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#Bildungsgerechtigkeit #Kultur #WissensWerte

​#WissensWerte: "Von der Theorie in die Praxis: Dekolonisierung als Haltung und Handlungsprämisse"

Xiyu Tomorrow, Zeichnerin, stART.up-Alumna

Xiyu Tomorrow, Zeichnerin und Bildende Künstlerin, Alumna des stART.up-Jahrgangs 2020/21, befasst sich in ihrer Kunst und in diesem Essay mit dem Thema und der Praxis der Dekolonisierung: Welche Handlungsmaximen ergeben sich aus einer dekolonialen Haltung? Wie wirken sie sich auf die künstlerische Praxis und den akademischen Betrieb, die Gestaltung von Lehre und Lernen, auf das eigene und gemeinsame Schaffen aus? Die Autorin reflektiert dies ausgehend von einer Diskussion, die sie mit Kolleg:innen an der Hochschule für Künste (HfK) Bremen führte, dokumentiert in einer gemeinsamen Publikation.

Ab 6. März 2024 zeigt Xiyu Tomorrow ihre Solo-Ausstellung MÄDCHENJAHRE in der Maison Heinrich Heine in Paris, einem neu aufgelegten Residenzprogramm der Claussen-Simon-Stiftung und der Fondation de l'Allemagne – Maison Heinrich Heine.


Dekolonisierung. Der Versuch einer Einordnung würde zum Beispiel, vielleicht, vorsichtig, historisch beginnen, zum Beispiel bei den Unabhängigkeitskriegen der Native Americans, er würde sich an den Autonomiebestrebungen Indonesiens entlang hangeln und schließlich bis zu den Unabhängigkeitsbewegung(en) auf dem afrikanischen Kontinent kommen. Vielleicht würde der Versuch auch im Areal zwischen Balkhash-See, Baikalsee und tibetischem Hochplateau ansetzen, um von der Befreiung von den Xiongnu zu erzählen. Oder er würde überhaupt mit einer ganz anderen Prämisse starten, je nachdem, wer gerade mit welchem Interesse spricht. Ich zerbreche mir den Kopf darüber und verweise an dieser Stelle auf die Tatsache, dass ich weder Historikerin noch Theoretikerin, sondern Zeichnerin bin. 

Die historischen und theoretischen Komplexitäten überlasse ich Menschen, die sich damit auskennen. Stattdessen gehe ich in diesem Beitrag auf einige diskursive Aspekte um den Begriff der Dekolonisierung ein, wie sie mich in meiner Arbeit als Kreative, Lehrende und Lernende begleiten. Stellvertretend spreche ich dazu über das Projekt "HfK dekolonial" in Herausgeber:innenschaft mit Cornelia Lund und Mara Recklies. Ich schließe meine Überlegungen mit einem Ausblick auf meinen Artist-in-Residence-Aufenthalt in Paris in der Maison Heinrich Heine, die ich dank der Claussen-Simon-Stiftung im März 2024 antreten kann. 

Aufmerksame Leser:innen werden die Themen, die den Komplex um Dekolonisierung mitunter begleiten, erkannt haben: Autonomie, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Vielfältigkeit, Kollaboration. Diskursiv bedeutet das u.a. eine Abkehr vom Eurozentrismus, die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten, das Infragestellen von Hierarchien, das Miteinander-in-Beziehung-setzen und -sein. In der bildenden Kunst versuchten sich zum Beispiel die documenta 15 und die 12. Berlin Biennale an der Umsetzung dieser Prinzipien. Beatrace Angut Lorika Oola, Cornelia Lund, Mara Recklies und ich, allesamt Lehrbeauftrage an der Hochschule für Künste (HfK) Bremen, sind in einen Austausch über unsere Erfahrungen zu dekolonialer Lehre eingestiegen. Im August 2022 führten wir darüber per E-Mail ein Gespräch in einem Zeitraum von zwei Wochen. Das Ergebnis finden Sie hier frei zugänglich als PDF. 

Unser Ausgangspunkt war, dass wir uns als Lehrende kritisch mit dem westlichen Modell (Kunst-)Hochschule sowie mit ihren Formen und Inhalten auseinandersetzen. Deren historische Entwicklung wurde stark durch mysogyne, rassistische, klassistische und andere diskriminierende Tendenzen geprägt. Insbesondere an der Frage des Kanons lässt sich dies sehr deutlich festmachen. Wie wir diesen ergänzen und erweitern und welche strukturellen Veränderungen wir uns darüber hinaus wünschen, ist ebenso Teil des Gesprächs wie die Erkenntnis, dass Dekolonisierung ein gesamtgesellschaftlicher Prozess ist. 

Vieles, was wir in der Publikation besprechen, knüpft an konkrete Fragen im Tagesgeschäft von Hochschulen an: Wie Studierende gewinnen und halten? Wie mit Diversität umgehen? Wie Diskriminierung auffangen? Was bedeutet dies für Curricula? Für Zugangsbarrieren? Für die künstlerische und gestalterische Praxis? Zugleich wirken diese hochschulpolitischen Themen weit über das Ausbildungsbiotop hinaus. In der heutigen Zeit sind diese Herausforderungen meines Erachtens ohne eine dekoloniale Haltung kaum zu bewerkstelligen. Das setzt jedoch die Bereitschaft voraus, diese Haltung in die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder und Wirkungskreise konkret einzubringen. Es braucht auch einen Willen für Veränderung, einen langen Atem und ein Maß an Unbequemlichkeit.

Die Arbeit an "HfK dekolonial" steht exemplarisch für diesen Prozess. Dass wir uns überhaupt langfristig miteinander darüber austauschen können, haben meine Mit-Herausgeber:innen und ich seit März 2021 forciert: Ausgehend von der Online-Tagung „Design for Debate: Dekoloniale Perspektiven für die Gestaltung“, veranstaltet von der HfK Bremen, stand der Wunsch einer Ergebnissicherung im Raum. Welche Form diese haben sollte, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar und hing vor allem an der Finanzierung. Konkret wurde das Vorhaben schließlich dank einer Förderung durch die HfK, die auch die institutionelle Anbindung erklärt: "HfK dekolonial" wurde geboren. Über zwei Jahre lang haben meine Mit-Herausgeber:innen und ich konzipiert, editiert, redigiert, korrigiert, geschrieben, gesammelt und gekürzt sowie Gestaltungsentwürfe besprochen, bis die Publikation im Juni 2023 veröffentlicht wurde. Sie sehen, das Projekt hat uns viel Mühe gekostet, und wenn Sie mich nett fragen, sage ich Ihnen gerne, ob ich am Ende etwas damit verdient habe. 

Bequem war eindeutig anders. Mir ging es nicht ums Geld, kann ich nur sagen, weil ich mich – unter anderem auch dank des stART.up-Stipendiums – querfinanzieren konnte. Zeit hatte ich nur deswegen, weil ich keine Care-Arbeit in Form von Pflege oder Erziehung zu übernehmen hatte und weil ich sie mir bewusst für das Projekt genommen habe. Die Mühe wert war es mir, weil ich die Beschäftigung mit dem Thema Ungerechtigkeit und wie sie zu nivellieren sei richtig und wichtig finde, weil ich auf bestimmte Art und Weise persönlich betroffen bin und somit intrinsisch motiviert war (die damit verbundene Ambivalenz wird zum Beispiel in diesem Artikel deutlich oder in der Debatte um Beyoncé’s Country Music Single) und weil ich Lust hatte, mich mit den anderen zu diesem Thema auszutauschen.

All der Einsatz hat sich unfassbar gelohnt. Bis heute finde ich es bemerkenswert, dass wir vier Teilnehmenden aus verschiedenen Richtungen kommen und es geschafft haben, mit Klarheit und Trennschärfe, einander ergänzend und mit einem Blick für das Gemeinsame miteinander zu sprechen. Ich wünsche mir mehr solcher Diskussionen. Ich habe sehr viel aus diesen Gesprächen gelernt und empfinde diese Erfahrung bis heute als wahnsinnig bereichernd, so schwierig der Prozess in manchen Etappen auch war. (An dieser Stelle eine Bitte: Sollten Sie die Unterhaltung lesen und am Ende denken: „Moment!“ – schreiben Sie mir. Ich möchte gern wissen, ob oder inwieweit ich an dieser Stelle in meiner kleinen Filterblase feststecke oder ob unser Ergebnis der Realität Stand halten kann.)

Der Claussen-Simon-Stiftung bin ich sehr dankbar, dass wir diese Debatte dank einer Förderung aus dem „Mach den Unterschied!“-Fonds in eine größere Gruppe tragen konnten. Im voll besetzten Saal des diffrakt (Berlin) diskutierten am 16. November 2023 Imad Gebrayel, Mara Recklies, Cornelia Lund und ich über die dekoloniale Hochschule und welche Voraussetzungen dafür nötig sind. Immer wieder kamen wir auf die Tatsache zurück, dass Dekolonisierung ressourcenintensives und langwieriges Arbeiten bedeutet. Bloß: Wer soll und will das tun?

Damit stoßen wir auf Fragen nach struktureller Ungleichheit, Diskriminierung, Ressourcen, Privilegien, Macht und Verantwortung. In deren Zentrum steht die Beobachtung, dass das Schaffen einer „Norm“ die Ausübung und Verteilung von Macht (und damit verbundener Ressourcen) steuert. Diese „Norm“ fußt auf unterschiedlichsten Zugangsbarrieren und dreht sich in der Regel um eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit. Eine klassische Norm ist beispielsweise der „weiße Mann“ als Stellvertreter für „der Mensch“. (Ich möchte fast sagen, gewesen, denn die gendergerechte Sprache bricht an dieser Stelle einiges auf.) Nun haben diejenigen, die die Deutungshoheit über eine Norm besitzen, in der Regel ein hohes Maß an Macht und ein Interesse daran, ihr Privileg zu halten. Historisch hat sich das mitunter durch die Abwertung, Verkürzung und Unsichtbarmachung „des Anderen“ verfestigt. Das führte mitunter so weit, dass Menschen mit bestimmter Gruppenzugehörigkeit die Fähigkeit, Schmerz zu fühlen, oder überhaupt ein Mensch zu sein und eine Existenzberechtigung zu haben, abgesprochen wurde. Diese Denkmuster wirken bis heute. In meinem Fall habe ich zum Beispiel während der COVID-Pandemie eine Form der Dehumanisierung erfahren, als ich in den Augen mancher Mitbüger:innen nicht mehr als Mensch oder Individuum wahrgenommen wurde, sondern als eine Bazillenschleuder. Man reihe das ein in fehlende Repräsentation, zum Beispiel im öffentlichen Leben, in Kunst und Kultur, in Lehre und Wissenschaft, in Spielzeug, in Büchern, man reihe das auch ein in vorgefertigte Rollen und fehlende Rollenvorbilder, fragwürdige Grundannahmen und vieles mehr, um die Tragweite dieses „Otherings“ ansatzweise zu eruieren.

Viele schlaue Köpfe haben sich dieses Themas bereits angenommen. Ich will daher an dieser Stelle auf die weiterführende und keineswegs vollumfassende Literaturliste in der Publikation von "HfK dekolonial" verweisen sowie auf das Impressum, denn ich finde es höchst aufschlussreich, wer dort in welcher Form auftaucht und wer nicht. Zugleich, und das ist mir erst im Lauf der Zeit klar geworden, geht es dabei um zartere Aspekte unseres sozialen Miteinanders: wem wir unsere Loyalität, unsere Treue, unsere Zeit und unser Vertrauen schenken, für wen wir Mitgefühl haben, solidarisch einstehen; es geht auch um die Frage, was ein Mensch aushalten kann oder will oder muss oder sollte.

Vielleicht ist das der Grund, wieso ich zeichne. Mich selbst in meiner künstlerischen Arbeit zur Schau stelle, obwohl es mir nicht primär um mich geht, sondern um das Sezieren des Gesellschaftlichen in meiner Person. Ich tue das in der Hoffnung, der Dehumanisierung ein Schnippchen zu schlagen, um mich rückzuversichern, dass ich ein Mensch bin und alle, die sich in meinen Arbeiten wiederfinden möchten, auch. Dass ich nicht alleine bin mit meinen manchmal schönen, manchmal fürchterlichen, manchmal bitteren Gedanken, die sich aus einer spezifischen Positionierung und den sich hieraus speisenden Erfahrungen ergeben: als Frau, als nicht-weiße Person, als Person mit Migrationsgeschichte, als Nichtakademikerkind usw. Dass meine eigene Verletzlichkeit ein Angebot sein kann, um miteinander in Kontakt zu kommen, wenn ich den Kopf vom Zeichentisch hebe und sehe: die Plakate, Sticker und diskursprägenden Momente einer Partei, die nicht genannt werden soll, die Wahlergebnisse letzthin von Berlin, die aktuelle Diskurs- und Debattenkultur, unser gesellschaftliches und unser politisches Zusammenleben oder Zerbrechen, im Großen wie im Kleinen.

Mit Blick auf all das freue ich mich sehr, als erste stART.up-Alumna die Residenz in der Maison Heinrich Heine in Paris antreten zu dürfen. Bis zum Anruf von Jenny Svensson und der Zusage kam mir die Vorstellung, eine Solo-Ausstellung in Paris zu eröffnen, wie ein weit entfernter Traum vor. Im März 2024 wird er wahr: Im Mittelpunkt von MÄDCHENJAHRE steht eine Arbeit aus dem Jahr 2019, die in autofiktionaler Weise von einer Jugend erzählt, die in Teilen auch die meine gewesen ist. Die Ausstellung selbst stellt die Frage, was es bedeutet, erwachsen zu sein, und wann man das ist – erwachsen. Ich hoffe sehr, dass mein Werk eine Bereicherung für die Pariser Kunstlandschaft im März 2024 sein kann, wie auch mein Text Ihnen eine bereichernde Leseerfahrung gewesen sein möge. Vielen Dank für Ihre Zeit.


Februar 2024
(Verweise auf externe Literatur bedeuten nicht zwingend, dass ich den Autor:innen zustimme, sondern dass darin Aspekte liegen, die ich für weitere Überlegungen spannend finde.)

HfK dekolonial – eine Unterhaltung über Lehre und andere Formen der kritischen Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, Bremen 2023.
Herausgeber:innen: Cornelia Lund, Mara Recklies, Xiyu Tomorrow, Gästin: Beatrace Angut Oola 

MÄDCHENJAHRE
6. März – 7. April 2024
Montag bis Samstag 10 – 18 Uhr, Sonntag 10 – 16 Uhr
Ausstellung in der Fondation de l‘Allemagne - Maison Heinrich Heine
Cité internationale universitaire de Paris
27c, Boulevard Jourdan
75014 Paris

Xiyu Tomorrow ist Zeichnerin aus Österreich in Berlin. Sie interessiert sich für Karten, Erinnerungen und für die Frage, was es bedeutet, Mensch in einer sich ständig verändernden Welt zu sein. 2019 wurde Xiyu mit einem Residenzstipendium des Goethe-Instituts China in Chengdu (in Zusammenarbeit mit dem A4 Museum) ausgezeichnet und war 2020/21 stART.up-Stipendiatin der Claussen-Simon-Stiftung.

Für alle Links gilt: 
Stand 21. Februar 2024

Titelmotiv: Lena Porath
Foto der Autorin: Stefan Schoder

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