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#WissensWerte: „Corona verändert die Sprachlandschaft!“: Spuren der Pandemie im städtischen Raum – ein Interview mit dem Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Jannis Androutsopoulos, Universität Hamburg

Sarah-Isabel Conrad, Bereichsleitung Kommunikation Claussen-Simon-Stiftung

Die Corona-Pandemie beeinflusst unser aller Alltag und Arbeit. Auch in der Sprache spiegelt sich dies. Wir haben in kurzer Zeit ein ganz neues Vokabular adaptiert, das uns vorher unbekannt, selten oder nur in Fachkreisen gebräuchlich war und das uns nun wie selbstverständlich von der Zunge geht: Aerosole, FFP2-Maske, Inzidenz, AHA-Regel, Reproduktionszahl, aber auch Wörter wie Maskenverweigerer und Corona-Leugner. Auch der Stadtraum hat gewissermaßen ein neues Vokabular. Corona hat sich in die Stadtlandschaft eingeschrieben, mit neuen Piktogrammen und Schildern. Prof. Dr. Jannis Androutsopoulos vom Institut für Germanistik der Universität Hamburg erforscht diese Manifestationen und ihre Veränderungen. Er befasst sich mit der „Linguistic Landscape“ Hamburgs und leitet das Projekt LinguaSnappHamburg, das zum Ziel hat, die sichtbare Sprachenvielfalt im öffentlichen Raum der Hansestadt fotografisch zu dokumentieren, öffentlich darzustellen und zu archivieren. Das Projekt wurde im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums der Universität Hamburg gefördert. Über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Sprachlandschaft haben wir Ende November 2020 mit dem Sprachwissenschaftler gesprochen. Das Interview führte Sarah-Isabel Conrad, Bereichsleitung Kommunikation bei der Claussen-Simon-Stiftung, es ist als erster Beitrag in unserer Newsletter-Reihe #WissensWerte erschienen.

Lieber Herr Professor Androutsopoulos, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung intensiv mit der Sprachlandschaft Hamburgs. In diesem Jahr prägt das Thema Corona auch Ihre Arbeit - inwiefern?

Corona prägt unsere Arbeit insbesondere in der Lehre, aber für einige von uns auch in der Forschung. Ich habe das Thema Corona in eine Vorlesung über Sprache im öffentlichen Raum und ein Seminar zur visuellen Sprache in der Schule eingebracht. Diese Lehrveranstaltungen waren im Frühjahr ohnehin eingeplant, und da kam die Veränderung der Sprachlandschaft im Zuge von Corona dann als sehr gut geeignetes, aktuelles Beispiel dazu.

Wenn Sie in der Stadt unterwegs sind, können Sie dann noch abschalten oder analysieren Sie jetzt automatisch alles, was Ihnen auffällt?

Diese Beobachtung von Zeichen in der Stadt ist ein bisschen wie eine Berufskrankheit. Im März und April 2020 erlebten wir eine schlagartige, aufmerksamkeitsstarke Veränderung der Sprachlandschaft, die sich in Orte eingeschrieben hat, die man tagtäglich aufsucht. Also den Spielplatz, die Schule, oder den Weg zur Arbeit. All diese Orte haben sich durch Corona-Beschilderung plötzlich verändert. Auch die Zugänglichkeit von Orten hat sich verändert. Dies alles muss der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Und das findet mit Sprache und Schrift und Bildern auf Schildern statt.

Können Sie das Prinzip einer Linguistic Landscape beschreiben und erläutern, welcher wissenschaftliche Ansatz dahintersteht?

Linguistic Landscape, zu Deutsch Sprachlandschaft, ist der Begriff, der die Gesamtheit der sprachlichen Kommunikation im öffentlichen Raum beschreibt, insbesondere der visuellen sprachlichen Kommunikation. Sprachlandschaften sind in diesem Sinne unsere semiotische Umgebung: Schilder, Texte, Zeichen im öffentlichen Raum. Diese lassen sich auf eine Vielfalt von Textsorten – oder Genres – herunterbrechen: Wir haben Inschriften, Ladenschilder, Plakatwerbung, Graffiti, Aufkleber und so weiter. Die Forschung zur Sprachlandschaft ist ungefähr 15 Jahre alt, also ein relativ neuer Zweig in der Mehrsprachigkeitsforschung und der Soziolinguistik.

Das Interesse lag zu Beginn auf sprachlicher Vielfalt im Kontext von Migration und Globalisierung. Man hat gezielt nach Spuren von Mehrsprachigkeit auf Schildern gesucht, sei es bezogen auf Migrantensprachen oder auf heimische Minderheitensprachen, wie zum Beispiel bei uns in Hamburg das Niederdeutsche. Oder auf Englisch als Spur von Globalisierungsprozessen. Inzwischen hat sich das Interesse stark ausgeweitet. Man versteht jetzt eine Sprachlandschaft nicht nur als eine Spur gesellschaftlicher Vielfalt, sondern als jegliche sprachliche Einschreibung menschlicher Tätigkeit in den Raum. Es gibt viele Impulse aus der visuellen Kommunikation, der Humangeographie, der Kulturgeographie, aus der Soziologie. Dadurch betrachtet man heute die Sprachlandschaft als eine Konstruktion des öffentlichen Raums: Die Öffentlichkeit mit ihren Möglichkeiten und Einschränkungen wird konstruiert durch das Verhalten im Raum, und zu diesem Verhalten gehören dann auch Schilder, die den Raum regulieren, aber auch die Aufmerksamkeit von Passant:innen auf sich ziehen.

Das heißt, eine Sprachlandschaft hat immer auch mit sozialen Vereinbarungen und der Kultur des Zusammenlebens zu tun?

Eine Koexistenz unterschiedlicher Menschen und Kulturen, Schichten und Milieus, so etwas kann sichtbar gemacht werden, zum Beispiel in Ladenzeilen mit Schildern in verschiedenen Sprachen. Aber genauso zeigt die Sprachlandschaft Konflikte in der Bevölkerung auf. Denn auch, wenn Sie Demonstrationen betrachten oder Widerstand – in welcher Form auch immer –, dann schreibt sich dieser in den sozialen Raum ein, in Form von Transparenten, Graffiti, Verunglimpfungen. Die Sprachlandschaft kann genauso gesellschaftliche Kohäsion und Zusammenhalt zum Ausdruck bringen wie gesellschaftliche Konflikte und Uneinigkeiten. 
Auch im Fall von Corona haben wir beides gesehen. Viele Beschilderungen der ersten Stunden haben zum Zusammenhalten angestiftet. Dazu gehören zum Beispiel die Regenbogen-Bilder mit dem Aufruf zum Durchhalten. Aber genauso sehen wir jetzt, dass die Sprachlandschaft dafür genutzt wird, Dissens und Widerstand gegen die Pandemiemaßnahmen zu verkünden.

Gerade der private Raum ist im Zuge von Corona sehr präsent geworden, Stichwort Regenbogen-Bilder. Ich erinnere mich auch an die Ostergrüße, die mit Kreide vor Wohnhäuser geschrieben wurden. Das ist sicher ein Phänomen, das mit Corona verstärkt zu beobachten ist?

Wir waren anfangs auch perplex, weil wir viele Corona-Schilder nicht eindeutig den bestehenden Klassifizierungen aus der Forschung zuordnen konnten. Wir registrierten sehr viele affektive Einschreibungen in den Raum – „Haltet durch!“, „Wir schaffen das!“, „Wir vermissen Euch!“. Dazu gehören auch Zeichnungen, die von innen ans Fenster geklebt und nach außen projiziert werden. Oder eben mit Kreide auf dem Gehweg eingezeichnet. Die übliche Forschungskategorie für solche Erscheinungen nennt sich „transgressive Zeichen“. Prototypische Beispiele dafür sind Graffiti, Tags und Aufkleber. Das sind Mittel, wodurch Menschen eine Form von Gegenöffentlichkeit darstellen: Man schreibt sich nicht-autorisiert in den Raum ein, um eigene Belange sichtbar zu machen, weil man sonst keine Bühne hat, als Subkultur zum Beispiel. Plötzlich sehen wir diese ganzen Botschaften des Zusammenhaltens. Die sind auch unerlaubt, aber es ist keine Gegenöffentlichkeit, die damit angestrebt wird, sondern es ist die Herstellung öffentlicher Kommunikation in ihrer Abwesenheit. Das ist interessant, denn es zeigt, wie vielfältig Menschen plötzlich in der Not mit dem Raum und mit Flächen als Material umgehen.

Es mussten also neue Kategorien gefunden werden, um diese Phänomene zuzuordnen?

Teilweise ja. Die schlichten Zeichen und Aufrufe zum Zusammenhalt haben sich von den bisher definierten Funktionsmodellen am deutlichsten abgesetzt. Aber alles Andere, was die Sprachlandschaft geprägt und verändert hat, fügt sich mehr oder weniger gut in bestehende Modelle ein. Denn ein großer Teil der Corona-Schilder dient ja der Regulation, neben der Information seit eh und je ein zentraler Bestandteil von Sprachlandschaften. Das sind Verbote, bestimmte Räume zu betreten, das sind Verhaltensvorschriften und -aufforderungen. Im Laufe der Zeit sind diese Schilder noch deutlicher geworden: Maskenpflicht, Abstandsgebot, hier entlang und so weiter. Bemerkenswert an diesen Corona-Schildern ist ihre Beschaffenheit. Selbst Behörden, Konzerne und Supermärkte haben in der Anfangsphase der Pandemie irgendwelche Masken auf Papier gezeichnet. In der Regel begreifen wir semiotische Regulation als etwas, das komplett durchprofessionalisiert ist. Hier hat eine starke Amateurisierung der Kommunikation stattgefunden. Da gab es keine Standardisierung, jeder hat es irgendwie gemacht. Beispiel Maske: Man liest auf Schildern „Maskenpflicht“, aber auch „Moin Freunde, bei uns herrscht eine gewisse Maskenpflicht …“. Manchmal sind die Masken gezeichnet, manchmal gibt es ein Emoji mit Maske. Diese Vielfalt in der Art und Weise, wie Corona die Sprachlandschaft verändert hat, ist beeindruckend

Auffällig war zumindest zu Beginn, dass viele dieser Schilder sehr wortreich herleiteten, warum Geschäfte schließen mussten. Ist das neu, weil Regulation ja eigentlich nicht erklärt?

Öffentliche Kommunikation ist immer eine indirekte Kommunikation. Ich kann nicht wissen, was Sie wissen, deswegen muss ich mich als Produzent einer Botschaft absichern und mit Mutmaßungen darüber arbeiten, was meine Rezipienten wissen. Ein gegenseitiger Abgleich von gesellschaftlichem Wissen in Form von Zusatzaufwand. Sechs Monate später sind es gerade diese Begründungen, die weggefallen sind, weil dieses Wissen inzwischen als gemeinsam geteilt wahrgenommen wird. 

Konnten Sie Veränderungen beobachten im Vergleich der schriftlichen zur mündlichen Kommunikation?

Ein Teil der Forschung zur Sprachlandschaft hat damit zu tun, ob gesprochene Sprache sichtbar gemacht wird. Das war das Thema der ersten Stunde dieser Forschungsdisziplin. Die ersten, die sich mit solchen Schildern beschäftigt haben, waren Forscher zu Minderheiten und Minderheitensprachen. Sie haben gefragt, was es ausmacht, wenn eine Minderheitensprache sichtbar gemacht wird oder eben nicht. Was im Hinblick auf die Corona-Phase besonders auffällt, ist die Dürftigkeit mehrsprachiger Schilder.

Die kommerzielle Mehrsprachigkeit ist eigentlich extrem verbreitet in Hamburg, Auch Läden, die ihre Identität ganz klar aus einem anderen Ort und einer anderen Sprache schöpfen, haben in der ersten Welle einsprachig kommuniziert. Es gibt eine Kluft zwischen der bisherigen Vielsprachigkeit in der Sprachlandschaft und der Konzentration auf die gemeinsame Verkehrssprache Deutsch. Die meisten mehrsprachigen Schilder, die wir gesammelt haben, sind solche von Behörden, die mit neu migrierten Menschen zu tun haben, bei denen unterstellt wird, dass sie des Deutschen nicht mächtig sind.

Hat sich das im Laufe der Zeit verändert?

Ja, im Zuge der Standardisierung und Vereinheitlichung spielt neben Deutsch das Englische eine Rolle. Es ist sozusagen die Logik des Hauptbahnhofs: Die Beschilderung, die das heimische und ein internationales Publikum anspricht. Das sehen wir mittlerweile häufiger. Zum Beispiel in Fußgängerzonen zur Maskenpflicht. Und dazu dann ein sehr großes Bild. Das ist übrigens etwas, das sich zu verändern scheint: Wir sehen, dass die Maskenabbildungen größer werden proportional zum Text. In der ersten Welle gab es mehr Text als Bild. Und jetzt haben sie mehr Bild und eine Unterzeile und damit fast den Charakter von Verkehrsschildern. Zu Beginn hatten wir den Notstand, und der warf den Bedarf an Begründungen auf. Diese fanden schriftlich statt. Jetzt, wo das gemeinsame Wissen da ist, haben wir wieder eine Zunahme bildlicher und eine Verringerung sprachlicher Kommunikation. Das ist sehr interessant.

Ist die Professionalisierung der Beschilderungen, die mittlerweile zu beobachten ist, ein Indikator dafür, dass der Notstand inzwischen zu einem festen und selbstverständlichen Bestandteil unserer Lebenswelt geworden ist?

Die Standardisierung ist auch Ausdruck dessen, wer spricht. Hier spricht eine Institution. Institutionen erlauben sich möglichst wenig Varianz in der Form ihres Ausdrucks. Standardisierung spiegelt auch eine bestimmte Beständigkeit. Es ist ein andauernder Zustand, der gespiegelt wird.

Wie viele Studierende sind an Ihrem Projekt beteiligt?

Der beeindruckende Beitrag der Studierenden ist in der kollaborativen Herbeischaffung von Material zu sehen. Das Spannende ist, dass nicht nur ich entscheide, was dokumentiert wird, sondern es obliegt den Studierenden. Wir haben momentan auf der Online-Karte des Projekts rund 700 Fotos, die coronaspezifisch sind. An der Datensammlung haben sich im Frühjahr rund 80 Studierende beteiligt. Es gibt darüber hinaus einen kleineren Kreis Studierender, die sich detailliert mit solchen Phänomenen beschäftigen, zum Beispiel für die Anfertigung von Forschungspapieren und Abschlussarbeiten.

Wie kann ich diese Karte der Sprachlandschaft nutzen?

Die Karte ist als Instrument unabhängig und vor Corona entstanden, um das Thema Sprachlandschaft in Hamburg in Forschung und Lehre zu entwickeln und aufzubauen. Zurzeit sind dort knapp 3.000 Schilder dokumentiert. Als Betrachter kann ich mir alle Schilder zeigen lassen oder sie wahlweise nach verschiedenen Kriterien filtern, zum Beispiel nur Inschriften auf Kirchen oder eben nur Corona-Beschilderungen.

Sie haben zum Thema Sprachlandschaft auch Workshops in Schulen durchgeführt?

Wir geben Unterrichtseinheiten in Schulen im Zuge einer Universitätsinitiative für Wissenstransfer. Es gibt überdies eine Forschungsnische, wo es darum geht, die Sprachlandschaft auch als Impuls und als Material in der Sprachdidaktik aufzunehmen, diesen Bereich verfolgen wir auch. Wir bieten Transfer, so viel es geht. Bei den Schülerinnen und Schülern ist sofort ein Verständnis dafür da, das Konzept ermöglicht es ihnen, zu den eigenen Beobachtungen und Erfahrungen eine Art intellektuelle Distanz zu entwickeln. Das ergibt eine sehr interessante Spannung. Und das macht die Attraktivität dieses Gegenstandes mit aus.

Herr Professor Androutsopoulos, ich danke Ihnen für das Gespräch!


Links

Über das Projekt: www.linguasnapp.uni-hamburg.de/
Zur Online-Karte: www.linguasnapp.uni-hamburg.de/karte.html
Forschungsbericht: www.uni-hamburg.de/newsroom/forschung/2020/0605-corona-sprache.html
Über Prof. Dr. Androutsopoulos: www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/personen/androutsopoulos.html

Foto: Projektmitarbeiterin Klara Becker bei der Dokumentation einer Corona-Mitteilung in Hamburg

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