Zum Inhalt springen

#Community #Kultur #Stiftung #Team #Transdisziplinarität

Workspace GB3 - oder: Der Wert Kreativer Zwischennutzungen

Julius Kenntner, Projektmanagement Workspace GB3

In der Mitte des Raumes wirken sie etwas verloren. Ihre Blicke suchen Halt, einen Fixpunkt. Sie finden ihn in einem wackligen Tisch gleich neben dem Eingang. Er ist bis zum Anschlag mit bunten Flyern beladen und entpuppt sich als Rettung in einem Meer aus grauem Teppichboden und grellen Deckenleuchten. Ein paar Schritte zurück. Daran festgeklammert wagen die zwei verunsicherten Tourist:innen erneut den Blick in die Ferne. Genauer gesagt ans andere Ende des Raumes, knapp 50 Meter entfernt. Von dort kommt ihnen ein gutgelaunter Pinsel-tragender Mensch entgegen, dessen freundlicher Blick jegliche Anspannung überflüssig macht. Was ist das für ein Raum?

Ich kann die beiden gut verstehen. Auch ich fühlte mich kurz verloren, als ich das erste Mal über die Treppen und eine kleine Glastür die knapp 800 Quadratmeter des 1. Stocks der Großen Bleichen 3 in der Hamburger Innenstadt betrat. Das ehemalige Großraumbüro der Commerzbank wurde als Kreative Zwischennutzung über ein halbes Jahr von März bis Oktober 2022 interdisziplinärer Arbeits-, Kreativ- und Begegnungsort von Stipendiat:innen und Alumni:ae aller Förderbereiche der Claussen-Simon-Stiftung. Übriggebliebene Commerzbank-Schriftzüge an den Türen erzählten noch von der einstigen Nutzung. Sie waren überklebt mit Plakaten des Rampen-Festivals, auf dem Boden lag glitzerndes Konfetti. Die vier bodentiefen Fensterscheiben luden ein, Bankerfrisuren von oben zu betrachten, und der Gang vom Arbeitstisch zur gemeinschaftlichen Küche dauerte eine Ewigkeit. Wenn nicht gerade der Tanzboden ausgerollt war oder die pinken Stühle für eine Veranstaltung aufgereiht wurden, konnte in der Raummitte schon mal Unsicherheit aufkommen – so ganz allein auf weiter Flur.

Doch Andres Muñoz Claros machte es vor. Der Pinsel-tragende Künstler aus dem stART.up-Jahrgang 2021/22 nutzte den besonderen Ort von Anfang an als Atelier für seine großflächigen Malereien. Mit aller Seelenruhe spazierte er mehrmals täglich quer durch den Raum, um sein Arbeitswerkzeug auszuwaschen. Dabei surrte die Klimaanlage ihr nie endendes Lied. Ich vermisse es jetzt schon. Aber spulen wir ein paar Monate zurück – in den März 2022.

„Der Workspace GB3 hat besondere Öffnungen zu unterschiedlichen Gruppen ermöglicht, die in meinen Augen zuvor einander nur selten oder wenig begegnet sind. Ob die Passant:innen vom Jungfernstieg, die verschiedenen Stipendiat:innengruppen oder auch Kolleg:innen und Freund:innen der dort Arbeitenden - der Raum hat sich selbst und viele Gespräche und Verbindungen eröffnet.“ René Reith, stART.up-Stipendiat:in

Im Frühjahr eröffnete im Passagenviertel an der Binnenalster ein neuer Laden: Der PostKultur Popup-Store zog in die ehemalige Bankfiliale ein. Zwischen luxuriösen Uhrengeschäften, Einrichtungshäusern und Anwaltskanzleien stellte Kathleen Alder eine Kreidetafel auf den Gehweg: „Kulturshop, Galerie, Kaffee.“ Nach kürzester Zeit kannte sie alle in der Straße. Und alle kannten sie. Während sie witzelnd mit den Handwerkern schnackte, machte sie feinsten Milchschaum und hängte mit der anderen Hand ein Bild auf. Am Telefon hatte sie ein Unternehmen, das ihr die neueste Soundtechnik sponsern würde. Doch wer ein Anliegen hat, bekam auch die ungeteilte Aufmerksamkeit der Tausendsassarin. Durch ihre Vermittlung und dank der Unterstützung des Programms „Frei_Fläche“ der Hamburg Kreativ Gesellschaft, einer städtischen Einrichtung zur Förderung der Hamburger Kreativwirtschaft, wurde die Fläche oberhalb ihres Ladens im März 2022 zum Experimentierfeld von 14 Künstler:innen des 8. stART.up-Jahrgangs der Claussen-Simon-Stiftung.

Neben der Nutzung als Atelierfläche und Rückzugsort fanden im Mai und Juni 2022 bereits mehrere Benefizkonzerte, Lesungen, eine Live-Painting-Performance und schließlich am 30. Juni 2022 das Rampen-Festival statt, das den Abschluss jedes Stipendienjahres im Förderprogramm stART.up markiert. Doch damit sollte nicht Schluss sein. Ursprünglich auf vier Monate begrenzt, wurde die Kooperation verlängert und wir konnten die Räume weiterhin nutzen. Die Idee war es nun, den Ort allen aktiven und ehemaligen Geförderten der Claussen-Simon-Stiftung zugänglich zu machen. Es kamen 30 weitere Stipendiat:innen und Alumni:ae aus den Programmen stART.up, Dissertation Plus, B-MINT, B-You!, Early Bird-Frühstudium und Horizonte dazu. Einen neuen Namen brauchte es nicht, „Workspace GB3“ hatte sich längst durchgesetzt. Schnell wurden Materialien zusammengetragen und der Raum weiter ausgestattet: Es entstand ein Coworking Space mit großen Arbeitstischen, eine Couchecke mit drei pompösen roten Sofas, es gab eine Bühne, einen Flügel, eine Tischtennisplatte und einen Tischkicker, Küchenutensilien und wunderschöne pinke Stühle.

In den nächsten Wochen im Sommer fanden verschiedene Workshops und Veranstaltungen statt. Mehrere Dozierende hielten ihre Seminare in den neuen Räumlichkeiten. Darunter Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard und Prof. Reinhard Flender, Leiter des Instituts für kulturelle Innovationsforschung. Choreograf:in und stART.up-Stipendiat:in René Reith brachte auf dem Tanzboden die B-You-Stipendiat:innen in Bewegung, und die geförderte Autorin Simoné Goldschmidt-Lechner las aus ihrem Debütroman „Messer, Zungen“. Die Installation „Playing Band“ lud ein, bunte Objekte und den Raum erklingen zu lassen, wenn es nicht gerade das Ensemble I Zefirelli um Flötistin Luise Catenhusen bei einer der vielen Proben im Workspace GB3 tat. Man kam zum konzentrierten Arbeiten außerhalb der eigenen vier Wände, traf sich zum gemeinsamen Lunch oder Bier. Sechs Künstler:innen konnten in den kleinen Glasabteilen – ehemalige Beratungskabinen der Commerzbank – ungestört ihre Arbeit weiterentwickeln. Es bildete sich eine Gemeinschaft in der Kreativen Zwischennutzung dieses Ortes, die neue Begegnungen und interdisziplinären Austausch ermöglichte. Der Leerstand wurde genutzt und mit Leben gefüllt.

„An einem Ort zu arbeiten, wo Personen aus den Bereichen der Musik, der Kunst und der Wissenschaft zusammenkommen, erinnert einen daran, dass die eigene Realität nicht die einzige ist und alle ihren Raum brauchen.“ Arie Maeve Brückner, B-MINT-Stipendiatin

Aber was ist eigentlich eine Zwischennutzung?

Eine allgemeingültige Definition scheint unmöglich. Zu vielfältig sind die Raumaneignungen und ihre Prozessergebnisse. Der seit Ende der 1990er-Jahre verwendete Begriff beschreibt Orte, die ihre ursprünglichen Funktionen verloren haben und bis zur Realisierung einer erneuten Nutzung leerstehen oder brachliegen würden. Stattdessen werden sie meist mietvergünstig von Akteur:innen verschiedenster Branchen für unterschiedliche Zwecke zwischengenutzt. Mögliche Standorte reichen vom verlassenen Industrie- und Militärgelände über ehemalige Kauf- und Wohnhäuser bis hin zu kleinen Ladenflächen oder eben Großraumbüros in Bestlage. Gemein ist ihnen, dass ihre Nutzung zumindest ursprünglich eben nicht auf Dauer angelegt ist. Ab wann nicht mehr von einer Zwischennutzung zu sprechen ist, lässt sich wohl nicht abschließend festlegen.

Stadtverwaltungen und Planungsakteur:innen erkannten in den letzten zwei Jahrzehnten das Potenzial dieser zeitlich begrenzten Raumnutzungen – auch weil die auf Wachstum angelegte traditionelle Stadtplanung nicht mehr funktioniert, wenn Einwohnerzahlen und Wirtschaftswachstum zurückgehen. Städte und Gemeinden erhoffen sich, von den temporären „Bespielungen“ des Leerstands durch Kreativschaffende neue Standortvorteile zu erlangen. Ganze Stadtviertel können durch sie aufgewertet werden und Imagesteigerungen erfahren, was mitunter Gentrifizierungsprozesse in Gang setzen kann. Aus der einst informellen Praktik, die sich aus den europaweiten Hausbesetzungen der 1970er und 1980er Jahre entwickelte, wurde ein institutionelles Planungsinstrument.

Zwischennutzungen scheinen für Mietende und Grundbesitzer:innen die perfekte Win-Win-Situation. Die Eigentümer:innen profitieren davon, dass ihre leerstehende Immobilie vor Vandalismus und Verfall bewahrt und für neue Investor:innen sichtbar wird. Das Potenzial für die Zwischennutzer:innen selbst liegt meist in den vergünstigten Konditionen und dem Charme ungewöhnlicher Orte. Allerdings müssen sie mit der Unsicherheit leben, jederzeit einer kommerziellen Nutzung weichen zu müssen. Langfristige Planungen und größere Investitionen werden dadurch erschwert. Die Befristung oder gar eine frühzeitige Kündigung kann Frustration auslösen – besonders wenn es gerade gut läuft.

Diese Erfahrung mussten auch wir machen, als im September 2022 klar wurde, dass unser Workspace GB3 leider tatsächlich nur eine Zwischennutzung bleiben würde – eine kürzere als erhofft. Ein neuer Mieter hatte sich gefunden, der die Räumlichkeiten schon ab 1. Oktober 2022 übernehmen wollte. Für uns bedeutete das, dass wir diesen schönen Ort recht kurzfristig räumen mussten.

„Gemeinsames Mittagessen, eine geteilte Kaffeepause und auch der Austausch über Veranstaltungen, Projekte und anstehende Herausforderungen haben meine meist einsame Arbeit angenehm unterbrochen. Durch den interdisziplinär geteilten Raum habe ich neue Impulse für meine eigene Arbeitsweise bekommen. Ohnehin herrscht ein Mangel an bezahlbarem Arbeitsraum für Künstler:innen. Der Workspace GB3 hatte als gemeinsam und interdisziplinär genutzter Ort eine herausragende Alleinstellung.“ Annina Brell, stART.up-Stipendiatin

In der kurzen und intensiven Zeit wurde klar: Sich einen Leerstand zu erschließen, braucht Zeit. Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur brauchen Raum. Für individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen braucht es interdisziplinären Austausch und sichere Orte, an denen dieser stattfinden kann – ein Gedanke, der die Claussen-Simon-Stiftung antreibt und auch die Geförderten seither nicht mehr loslässt.

Mit etwas Abstand blicke ich glücklich auf diesen aufregenden Sommer an der Alster zurück. Der Schmerz darüber, dass die Dynamik, die der Workspace für die Community und die Arbeit der Geförderten ermöglichte, sich durch die Schließung nicht weiter entfalten könnte, ist überwunden; es hat aber eine Weile gedauert. Denn so wie sich die Tourist:innen langsam an den Raum gewöhnten, wurde auch für mich der Ort allmählich vom Nicht-Ort zum Wohlfühlort. Nicht nur wegen der gemütlichen Couchecke, der Tischtennisplatte und der Möglichkeit, konzentriert zu arbeiten oder so laut zu sein wie man möchte. Sondern wegen all der inspirierenden Stipendiat:innen, Alumni:ae und anderer bereichernder Menschen, die ich an diesem Ort kennenlernen durfte. Für diese Begegnungen bin ich unendlich dankbar!

„Es braucht Vertrauen und die richtigen Orte, um produktiv zu sein. Im Workspace GB3 hatten wir eine ideale Mischung aus Freiraum, Gemeinschaft, konzentrierter Arbeitsumgebung, Ping Pong, gut organisierter Betreuung, Gästen und Selbstverantwortung. Nur leider etwas zu wenig Zeit, um all die damit verbundenen Möglichkeiten zu nutzen und Begegnungen wachsen zu lassen. Sie wirken hoffentlich darüber hinaus.“ Alex Hojenski, stART.up-Stipendatin


Julius Kenntner ist Masterstudent am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Neben seinem Studium verantwortete er ab Juni 2022 den Workspace GB3 der Claussen-Simon-Stiftung, eine Kreative Zwischennutzung in der Hamburger Innenstadt.

Artikel kommentieren

Kommentare sind nach einer redaktionellen Prüfung öffentlich sichtbar.