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#Auslandsaufenthalt #Ehrenamt

Und warum ausgerechnet Kasachstan?

Dmitri Sevkopljas, Stipendiat bei Horizonte

Weil es das neuntgrößte Land der Erde ist, über das wir im Westen praktisch nichts wissen, ein Land voller politischer Hoffnung und Bewegungen, Begegnungsort unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Nationen, wiederauflebenden Traditionen und Geschichten und schließlich auch das Land meiner Vorfahren.

Eines meiner Entwicklungsziele im Horizonte-Stipendium war der Ausbau meiner russischen Sprachkompetenz. Damit wollte ich sowohl meine politische Arbeit als Aktivist in der russischsprachigen LGBTQIA*-Organisation Quarteera Hamburg professionalisieren sowie den Kontakt zum russischsprachigen Teil meiner Familie intensivieren als auch die Möglichkeiten erweitern, diese Sprachkompetenz im Schulkontext einzubringen.

So wappnete ich mich vor meiner Reise im März 2024 mit russischer Literatur und Vokabelheften, stellte den Kontakt zu meiner Familie aus Kasachstan her, die ich teilweise seit 19 Jahren nicht mehr gesehen habe, und kontaktierte verschiedene LGBTQIA*-Organisationen in Almaty.

Bereits in den ersten Tagen meiner Reise bemerkte ich, dass ich weit mehr Ziele erreichen würde, als ich mir vorgenommen hatte. Beim Treffen mit meiner Kontaktperson von Safe Space Almaty lernte ich vor allem viel darüber, wie sich eine Organisation im Ausland finanziert und organisiert, die von keinen staatlichen Instituten gefördert und weiter unterstützt wird. Das Ziel von Safe Space Almaty ist es, eine sichere Umgebung für LGBTQIA*-Personen und ihre Verbündeten zu schaffen. Hierfür organisieren sie verschiedene interaktive Veranstaltungen, bieten HIV-Selbsttests an und planen regelmäßig stattfindende Selbsthilfegruppen, die von trainierten Mitgliedern aus der Community angeleitet werden. Meine Kontaktperson berichtete mir außerdem vom queeren Leben in Almaty (außerhalb vom Community-Center), das vor allem in der queeren Bar und dem Communitytreffpunkt Amirovki stattfände. Dieser war mit wichtigen Regeln ausgestattet, um ihn für alle zu einem sicheren Ort zu machen. Worauf ich mich beim anschließenden Besuch des Community-Centers jedoch nicht vorbereiten konnte, war ein psychologisches Training, bei dem ich hospitieren durfte und in dem sehr persönliche Inhalte geteilt wurden. Schnell lernte ich so die Teilnehmer:innen auf eine sehr tiefgehende Weise kennen, und ich war sehr dankbar dafür, dieses Training mitmachen zu dürfen. In einem anschließenden kurzen Gespräch versicherten wir uns, dass wir auf jeden Fall in engem Kontakt bleiben werden und dachten über mögliche Kooperationen zwischen Quarteera Hamburg und Safe Space Almaty nach, wie beispielsweise den Besuch unseres Prides. Wir spürten, wie wir uns bereits jetzt gegenseitig persönlich inspirierten und wie bedeutsam diese Begegnung für beide Vereine sein kann. Ich bin schon jetzt gespannt, was die Zukunft bringen wird.

In meinem Gespräch mit meiner Kontaktperson von Feminita durfte ich einen Einblick davon bekommen, wie queerfeministische Aktivismuskämpfe innerhalb korrupter Strukturen funktionieren. Ich beschloss, hier außerdem die offenen Fragen über queeres Leben in Almaty zu stellen, die mir nach dem Treffen mit Safe Space noch im Kopf schwirrten. Überaschenderweise betonte sie zunächst sehr, dass das Leben in Kasachstan für queere Menschen oder Aktivist:innen so normal wie überall anders auf der Welt sei. Sie erklärte mir, welche Strukturen bereits bestehen, um sich zu wehren und was für eine starke Community sich bereits gebildet hat. Schade sei dabei, wie schnell dies ehemalige Mitglieder vergessen würden, wenn sie im Ausland darüber berichten, wie diskriminierend der Staat sei, wie wenig Unterstützung sie bekommen hätten und schließlich mit dieser Leidensgeschichte Geld verdienen würden. Gleichzeitig gebe es durchaus das korrupte politische System und die kriminellen Wege, die die Polizei gehen würde, um Versammlungen wie an dem wichtigen 8. März zu stoppen. Diese Dynamik gehe weniger von der Bevölkerung aus als viel mehr von einflussreichen Menschen, die mit ähnlichen, kriminellen Methoden politische Oppositionelle einschüchtern. Genauso sprach sie offen über die familiären Hausarreste von erwachsenen queeren Frauen, die nach mehreren Monaten nur rausgelassen werden, weil sie durch ihren Job Geld in den Haushalt bringen.

Das Gespräch endete mit dem Thema der Kolonialisierung der kasachischen Bevölkerung, speziell zur Sowjetzeit, und dem damit verbundenen Aussterben ihres kulturellen Erbes: Von der Einführung eines neuen Alphabets, das die Laute der kasachischen Sprache in seiner Gänze nicht wiedergeben konnte, bis hin zur zwangsweise durchgesetzten Kollektivierungs- und Sesshaftmachungspolitik der Jahre 1929–1932, die Hunderttausende kasachischer Nomad:innen das Leben kostete. Mir wurde bewusst, wie wenig ich noch immer über die Kolonialgeschichte Russlands weiß und wie wichtig es mir ist, mich damit noch mehr auseinanderzusetzen und dieses Wissen in meine politische Arbeit und meine zukünftige Tätigkeit als Lehrkraft einzubringen

Neben diesen spannenden Einblicken in die wichtige queer-aktivistische Arbeit in Almaty und die Verbindung zur kolonialen Geschichte Kasachstans wurde schließlich die langersehnte Wiedervereinigung mit dem in Kasachstan lebenden Teil meiner Familie zu meinem ganz persönlichen Ziel dieser Reise. Bereits vor der Reise fing ich an, mit der Hilfe meiner Eltern einen ersten Stammbaum aufzuzeichnen und sie darüber auszufragen, wo die einzelnen Zweige der Familienmitglieder leben, mit denen wir nach unsrer Migration teilweise gar keinen Kontakt mehr haben. Ich reiste nach Taldykorgan und führte dort lange Gespräche mit Verwandten am Grab meiner deutschen Oma, am Grab meiner russischen Großeltern sowie anderer Verwandter väterlicherseits, die ich alle nie selbst kennenlernen durfte. Ich stellte Fragen über ihr Leben und den Tod, die ich mich zuvor nie getraut hatte zu stellen. Letztendlich wurde diese Reise so auch zu einer Spurensuche nach der Geschichte meiner Familie, die ein Stück weit immer mehr auch zu meiner eigenen Geschichte geworden ist und zu der ich nun einen eigenen, wichtigen Zugang finde.

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