Interview mit Lisa Streich
Welche Bedeutung hat der Claussen-Simon-Kompositionspreis für Dich?
Es ist, als ob sich der Kreis schließt. Zum einen habe ich im Rahmen eines Meisterkurses in Luzern 2016 mein erstes großes Orchesterstück aufführen können, und seitdem habe ich mir immer gewünscht, wieder ein Stück für große Orchesterbesetzung zu schreiben. Zum anderen ist es ein ganz besonderes Gefühl, nun dank des Kompositionspreises zurück nach Hamburg zu kommen. Denn hier habe ich als Jugendliche Klavier- und Kammermusikunterricht an der Hochschule für Musik und Theater erhalten. Alles greift auf gewisse Weise ineinander: Ich habe zwar als Jugendliche in Hamburg in Konzerten gespielt, aber meine Musik ist hier selten gespielt worden. Die Uraufführung des neues Werks in der Elbphilharmonie ist auch deshalb ein ganz besonderes Erlebnis für mich.
Beeinflusst die Tatsache, dass Dein Werk im Großen Saal der Elbphilharmonie aufgeführt werden wird, Deine Komposition? Ist die besondere Akustik des Saales ein Aspekt, der sich in das Werk einschreiben wird?
In meiner Musik gibt es immer starke Kontraste. Teilweise ist sie sehr laut, und teilweise auch sehr sehr leise. Diese Differenz geht in den falschen Sälen unter. Entweder wird sie so komprimiert, dass die Extreme nicht mehr herauskommen, oder die Musik wird verschluckt und man hört sie gar nicht mehr. Schon in der Listening Session zum Claussen-Simon-Kompositionspreis in der Elbphilharmonie war zu merken, dass dort im Großen Saal wirklich alles zu hören ist, jede Nuance, auch wenn es ganz ganz leise ist. Und das ist natürlich sehr spannend, denn dadurch öffnet sich das ganze klangliche Spektrum, meiner Komposition sind gewissermaßen keine Grenzen gesetzt.
Was bedeutet die Zusammenarbeit mit Alan Gilbert, dem Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters, für Dich?
Alan Gilbert habe ich 2016 in einer Master Class in Luzern erlebt, und es war wirklich ein einschneidendes Erlebnis für mich. Denn dort konnte ich ein Stück, dirigiert von vielen verschiedenen Dirigenten, hören. Es war sehr faszinierend: Ein und dasselbe Stück war so unglaublich unterschiedlich in Klang und Ausdruck, je nachdem, wer am Pult stand. Man denkt, dass die Gesten sehr viel ausmachen, die Expressivität des Dirigenten. Doch nur die Art, wie sie standen, wie sie sich positionierten, hat schon so viel ausgemacht. Die Bedeutung des Dirigenten für Wirkung und Interpretation von Musik ist mir dort sehr unmittelbar bewusst geworden. Alan Gilbert hat sich hingestellt, und es gab diese Erdung bei ihm, der Klang stand auf festen Füßen. Das war sehr faszinierend. Seitdem höre ich mir immer wieder Konzerte mit ihm an.
Wird es während des Kompositionsprozesses einen Austausch mit dem Dirigenten und dem Orchester geben?
Ja, das ist so vorgesehen, und ich möchte unglaublich gerne nach Hamburg kommen und Dinge ausprobieren. Aus solchen direkten Zusammentreffen lässt sich sehr viel mitnehmen. Ich kann viel weiter gehen, als es normalerweise möglich ist, wenn ich zum Beispiel nur einen Auftrag habe und dann erst zur Endprobe vor dem Konzert komme. Das ist immer eine vergebene Chance. Auch für die Orchestermusikerinnen und -musiker ist es schön, Teil des Prozesses zu werden. Manchmal haben sie auch noch sehr gute Vorschläge, wenn sie verstehen, wonach man sucht. Das ist ein spannender, wechselseitiger, inspirierender Prozess. Je stärker sie eingebunden sind, desto stärker ist auch das musikalische Erlebnis für sie, denke ich.
Beeinflusst die Corona-Krise Deine Arbeit in irgendeiner Weise? Welche Wirkung haben äußere Ereignisse auf Dein Schaffen und Deine Musik?
Ich bin definitiv jemand, die sich sehr vom Leben beeinflussen lässt in der Musik. Wir durchleben eine ganz spezielle Zeit, und ich denke, das wird man auch in allen Musiken, die jetzt geschrieben werden, spüren, man wird etwas Gemeinsames heraushören können. Was das ist, das weiß man natürlich noch nicht. Aber es ist etwas Merkwürdiges in der Luft, eine bestimmte Ungewissheit, was zurzeit unser aller Leben prägt, und das wird sich sicher ganz automatisch in die Musik einschreiben, ohne dass ich es jetzt mit Worten fassen könnte.
Allgemeiner gefragt: Wie entsteht eine Komposition?
In der Regel denke ich erst einmal sehr lange nach, bevor ich etwas zu Papier bringe. Wenn ich dann verschiedene Teile vom Stück im Kopf habe, versuche ich das erst mal zu skizzieren und dann immer mehr im Detail auszuarbeiten, auf Notenpapier. Ich arbeite nur am Schreibtisch, Instrumente würden mich eher stören und ablenken, den Fokus schwächen. Erst wenn ich die Orchesterstimmen für die einzelnen Stimmen ausarbeite, nutze ich auch Instrumente, um den Klang zu prüfen. Aber wenn ich am Ganzen arbeite, nutze ich am liebsten nur Papier.
Wie gehst Du an dieses neue Auftragswerk, das mit dem Kompositionspreis verbunden ist, heran?
Ich habe mir Zeit zum Nachdenken gegeben bis August. Fragmente habe ich schon. In den merkwürdigsten Momenten kommen plötzlich Ideen. Aber ich weiß noch nicht, wie das Ganze aussehen wird, wie es sich anhören soll. Und das ist auch das Spannende: Wenn ich mich dann an den Schreibtisch setze, führt das oft dann noch einmal ganz woanders hin. Es ist ein nie stillstehender Prozess. Ich nenne das „Konversation mit der Musik“. Die Musik und ich, wir führen einen Dialog über die Möglichkeiten, und der kann in ganz verschiedene Richtungen führen. Und schließlich zum fertigen Werk.
Gibt es diesen einen Punkt, wenn klar ist: Das Werk ist fertig! Oder passiert dies auch eher in einem Prozess des Übergangs?
Ja, diesen Moment gibt es ganz eindeutig. Dann weiß ich über das Stück: Du bist jetzt ein eigenständiges Werk. Wenn es nicht fertig ist, dann wurmt mich das, dann muss man einfach warten, weiterschauen, wo der Fehler liegt. Ich gebe dem Werk immer erst ganz am Schluss die eigentliche Form, oft kann man die Form dann einfach verändern, sodass das Ganze mehr Sinn macht. Oder man muss tatsächlich noch etwas hinzufügen oder etwas wegnehmen. In der Regel werfe ich die Hälfte im Laufe einer Komposition weg. Das ist natürlich zeitlich gesehen ein großer Schwund, aber kurz und prägnant ist besser als lang und unentschlossen. Das ist ein Teil des Prozesses, es gehört dazu.
Der Moment der Uraufführung: Hast Du davon Bilder im Kopf, ist es das Ziel, auf das Du hinarbeitest? Oder schiebst Du diese Vorstellung eher weg?
Es ist eigentlich wie eine Geburt: Wenn das Werk da ist, wenn es erklingt, ist es immer eine Spur anders, als man es sich vorgestellt hat, es gibt immer Überraschungen. Bei der Aufführung verändert es sich auch im Vergleich zu den Proben, weil dann die Zuhörer im Saal sind. Man spürt ihre Anwesenheit und wie sie die Musik hören. Die Leute fragen mich häufig, wie es für mich war. Aber ich kann in diesen Momenten eigentlich gar nicht richtig zuhören. Weil das so intensiv ist.
Nimmst Du Dir für Deine Werke Themen vor?
Ich habe durchaus oft außermusikalische Ausgangspunkte, die ich aber nicht vermitteln möchte. Sie dienen eher als roter Faden für mich und das Stück. Aber ich möchte damit die Zuhörer nicht limitieren. Man beraubt sie damit um das eigene Erleben. Jeder soll beim Zuhören Zeit haben, dazu Stellung zu nehmen, sich eigene Fragen zu stellen. Wo befinde ich mich jetzt in diesem Stück, kann ich irgendetwas spüren, was vielleicht auch in meinem Leben relevant ist? Das kann ja sehr unterschiedlich aussehen, ich mag die Zuhörer nicht ihrer subjektiven Wahrnehmung berauben, indem ich konkrete Themen setze. Ich will ihnen nichts aufdrängen.
Wie findest Du dann die Titel für Deine Stücke?
Ich versuche immer Titel zu wählen, die mindestens zweideutig sind, wo sich viel reininterpretieren lässt und die sehr offen sind, sodass jeder seinen eigenen Bezug finden kann.
Zu welchem Zeitpunkt im Kompositionsprozess fällt die Entscheidung für einen Titel?
Oft habe ich die Titel schon am Anfang im Kopf, meistens werden das dann auch die besseren Stücke, wenn ich von Anfang an weiß, wie es heißen wird. Wenn ich am Ende des Stückes keinen Namen habe, scheint auch das Stück nicht sehr prägnant geworden zu sein. Häufig habe ich auch Arbeitstitel, manchmal sogar zwei oder drei, und dann merke ich im Laufe des Komponierens, welcher Titel wirklich passt, worum es in der Musik geht.
Arbeitest Du parallel an mehreren größeren Werken?
Ja, durchaus. Ich werde jetzt auch zwei Stücke parallel schreiben. Das ist sehr gesund, weil man immer wieder Pausen zum Nachdenken machen muss, finde ich. Und die kann man dann gleich für ein anderes Stück nutzen. Das ist erfrischend, weil Stücke einem auch, so wie Menschen, irgendwann auf die Nerven gehen. Da ist ab und an eine Pause notwendig, etwas Abstand. Dann freue ich mich wieder, daran weiterzuarbeiten. Es ist immer ganz wichtig, dass ich zwei Schreibtische habe, damit die Stücke dann wirklich ruhen dürfen, auf ihrem eigenen Schreibtisch. Wenn man die Papiere zusammenpacken und wegpacken muss, dann wäre das ganz weg, verschlossen, dann ist das nicht mehr in der Luft, die es für die Entwicklung braucht. Dieser Schwebezustand ist wichtig.
Sarah-Isabel Conrad, Bereichsleitung Kommunikation, sprach im April 2020 per Skype mit Lisa Streich in ihrem schwedischen Zuhause.