Lead yourself before leading others: Was uns die Bhagavad Gita über erfolgreiches (Self-)Leadership in der Klimakrise lehren kann
Emily Nass, Master Plus-Alumna
Aktuell befindet sich die globale Ökonomie in einer umfassenden Transformation. Lange wurde die wirtschaftstheoretische Annahme aufrechterhalten, die soziale Verantwortung von Unternehmen bestünde in der Maximierung von Profiten. Wie die Auswirkungen der Klimakrise zeigen, müssen die Konsequenzen unternehmerischen Handelns auf die Gesellschaft und die Umwelt stärker beachtet und beeinflusst werden. Für eine aktive Inanspruchnahme unternehmerischer Verantwortung müssen die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt in den Mittelpunkt gestellt werden. Nur wenn Unternehmen im Kern darauf abzielen, gesellschaftliche Probleme zu lösen und das Zusammenleben auf der Erde aktiv zu verbessern, sind sie umfassend nachhaltig.
Leader tragen in ihrer Rolle als Vorbildfunktion und Richtungsgeber eine große Verantwortung in dieser Nachhaltigkeitstransformation. Leadership ist besonders durch menschliches Vertrauen gekennzeichnet, dass Follower in Leader1 haben. In Krisenzeiten sind Leader deshalb bedeutungsvoll, weil sie ihren Followern Hoffnung, Sicherheit und eine kollektive Vision bieten können, die diese intrinsisch zu ihrem Handeln motivieren. Nachhaltige Führung hat zum Ziel, Transformationsprozesse von Organisationen anzuleiten, indem Langzeitziele aufgestellt und Mittel zu ihrer Erreichung bereitgestellt werden. Für die Umsetzung nachhaltiger Führung müssen mehrere individuelle und organisationale Prozesse durchlaufen werden.
In meiner Masterarbeit habe ich Leadership auf individueller Ebene betrachtet und unter dem Titel Spiritual Leadership in the Climate Crisis: Lessons From the Bhagavad Gita analysiert, welche Denk- und Handlungsanweisungen für Leadership aus Spiritualität abgeleitet werden können. Dafür habe ich konkret die Bhagavad Gita untersucht, eine der zentralen Schriften des Hinduismus. Sie thematisiert in über 700 Versen ein Gespräch zwischen dem Prinzen Arjuna, der sich in einem ethischen Dilemma befindet, und Krishna als eine Inkarnation des Gottes Vishnu. Dieser berät ihn, indem er mehrere vedische Weisheiten mit dem Prinzen teilt. Die Veden als Grundpfeiler des Hinduismus werden als zeitlose und universell geltende Wahrheiten definiert. Daher spricht man auch von der vedischen Philosophie.
Implikationen dieser vedischen Weisheiten für Leadership in der Klimakrise abzuleiten, erschien mir aus mehreren Gründen spannend. Zum einen sehe ich eine Parallele in der Ausgangssituation von Arjuna und heutigen Leadern: Sie stehen auf gleiche Weise vor komplexen ethischen Abwägungen und zwischen den Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, um eine umfassende nachhaltige Veränderung zu bewirken. Des Weiteren besteht eine interessante Parallele zwischen der über 2000 Jahre alten Schrift und der Schlüsselliteratur der Wirtschaft: Sie teilen das Streben nach Gemeinwohl. Der Begriff Lokasaṁgraha wird aus der alten Sprache Sanskrit als „das Wohlergehen der Bevölkerung“ übersetzt, und in der Bhagavad Gita als ultimatives Ziel beschrieben, das Leader mit ihrem Handeln ermöglichen sollen (siehe Kapitel 3, Vers 21). Auch in dem bekannten Werk Wohlstand der Nationen, das 1776 von dem Ökonom Adam Smith veröffentlicht wurde und noch heute prägend ist für viele wirtschaftliche Grundannahmen, wird das Gemeinwohl als Hauptziel ökonomischen Handelns beschrieben. Zuletzt ist die Übertragung fernöstlicher Weisheiten auf den heutigen Wirtschaftskontext auch deshalb interessant, weil die Philosophie bis heute aktiv gelebt wird und Konzepte wie Yoga und Achtsamkeit zunehmend in die Managementforschung eingebunden werden. Die Kernerkenntnisse meiner Masterarbeit möchte ich nachfolgend gerne vorstellen.
Die vedische Philosophie trifft die Grundannahme, dass alles Leben miteinander verbunden ist, somit auch jedes Individuum mit dem Gesamtuniversum. Das wird damit begründet, dass alles Leben aus derselben Grundmaterie besteht. Das Ziel des menschlichen Lebens ist es, diese Verbundenheit zu erkennen. Diese Realisation wird als Tat Twam Asi bezeichnet. Die Bhagavad Gita beschreibt mehrere Wege der Selbstentwicklung, die zu dieser Erkenntnis führen: die Yoga-Pfade. Yoga heißt Vereinigung, und der Begriff umfasst Vereinigungsprozesse zwischen Körper und Geist sowie dem Individuum und seiner Umgebung, welche ein Mensch erfahren kann. Unterschieden wird zwischen Karma Yoga (der Weg der Handlung), Jnana Yoga (der Weg des Wissens) und Bhakti Yoga (der Weg der Demut). Teilweise wird als vierter Weg Raja Yoga (der Weg der Meditation) ergänzt. Jeder Mensch schreitet in seinem Leben auf diesen Entwicklungspfaden fort und kann auf unterschiedliche Weisen zu Tat Twam Asi gelangen. Ich habe in meiner Forschung fünf Grundkonzepte identifiziert, die darlegen, wie diese Entwicklungsprozesse ablaufen.
In der Philosophie wird Selbstbeobachtung (genannt Dhyana) als essenzieller Schritt für Veränderung betont. Die Jnana und Raja Yoga Pfade legen dar, dass ein Mensch neben der Aneignung geistigen Wissens auch eigene Erfahrungen machen muss, um von seinem theoretischen Wissen überzeugt zu sein. Über die Beobachtung des eigenen Atems, des Geistes und des Körpers erlangt ein Yogapraktizierender (genannt Yogi) Disziplin. Diese Disziplin verhilft ihm, die drei Grundpfeiler des Karma Yoga auszuprägen: das distanzierte Handeln (Nishkama Karma), Pflichtbewusstsein (Dharma) und Gleichmut (Samabhava).
Nishkama Karma äußert, dass Handlungen aus voller intrinsischer Überzeugung von ihrer Richtigkeit und Notwendigkeit erfolgen sollen – ohne Abhängigkeit davon, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Beispielsweise sollte anderen um des Helfens Willen geholfen werden, und nicht, weil Hilfsbereitschaft ein gutes Ansehen verschafft. Dharma beschreibt verschiedene Ebenen von Verantwortungen, die jeder Mensch vor sich selbst, vor gesellschaftlichen Kreisen und vor der natürlichen Ordnung trägt. Dabei ist die Achtung der Verantwortung gegenüber dem Kosmos (genannt Rita Dharma) die wichtigste, da die vedische Philosophie so wie die Umweltökonomie argumentiert, dass die Balance des menschlichen Lebens von dem der Natur abhängig ist. Außerdem soll in einem geistigen Zustand des Gleichmuts (Samabhava) gehandelt werden. In Gleichmut werden angenehme wie unangenehme Empfindungen wahrgenommen und akzeptiert, ohne sie zu verändern. Denn die Akzeptanz einer Wahrnehmung verändert die Wahrnehmung selbst. So wird mentale Resilienz ausgeprägt, die effektives Handeln ermöglicht. Das selbstlose Handeln zur Hilfe anderer existiert in der Philosophie als eigener Selbstentwicklungsweg Bhakti Yoga und wird als direktester Weg zur Erkenntnis der allumfassenden Verbundenheit Tat Twam Asi erachtet. Hierfür wird empfohlen, sich ein Umfeld von Menschen zu schaffen, welches einen positiv beeinflusst und zu selbstlosem Handeln inspiriert.
All die dargelegten Einstellungen können unabhängig voneinander ausgeprägt werden und resultieren der vedischen Philosophie nach in dem Gefühl tiefgründiger Verbundenheit mit sich selbst, seinen Mitmenschen und der Umwelt. In meiner Literaturanalyse konnte ich herausarbeiten, dass sich die Devisen für Leadership in der hinduistischen Schrift und in der Nachhaltigkeits- und Krisenforschung ähneln.
Die Verinnerlichung dieser Lebensweisheiten hilft in der Bhagavad Gita dem Prinzen Arjuna, die Handlungsohnmacht trotz seines ethischen Dilemmas zu überwinden. Er schöpft Motivation, sich für Frieden und Stabilität einzusetzen, obwohl er dafür vielleicht sein Leben opfern muss. In der Forschung zu unternehmerischer Nachhaltigkeit beschreiben Dyllick und Muff (2016) eine ähnliche Einstellung als finales Ziel nachhaltiger Transformation: die outside-in Perspektive. Demnach sollen Unternehmen ihr Handeln an der Überwindung von Nachhaltigkeitsproblemen orientieren. Gemeinwohl zu schaffen wird dadurch zum Hauptziel eines umfassend nachhaltigen Unternehmens. Wie Arjuna sollten Leader in diesem Fall Entscheidungen treffen, die langzeitig dem Frieden und dem Wohlergehen ihres Gesamtumfelds dienen. In Krisen tragen Leader die Verantwortung, über die Verteilung von Ressourcen zu entscheiden, konstruktive Austauschgespräche zu koordinieren und Akteure zu kontrollieren oder zu ermächtigen (Riggio & Newstead, 2023). Die Bhagavad Gita betont, aus welchem mentalen Zustand heraus gehandelt werden sollte: aus intrinsischer Überzeugung, aber nicht rein zielorientiert, mit Hinblick auf die Wahrung natürlicher und sozialer Ordnungen, und gleichmütig. Als entscheidende Erkenntnis beschreibt die Philosophie, dass diese Einstellungen sich über das Praktizieren von Selbstbeobachtung und -disziplin automatisch ausprägen. Achtsamkeit sensibilisiert für das Wohlergehen anderer.
Meine Forschung basiert auf größtenteils theoretischen Erkenntnissen. Um den tatsächlichen Einfluss der Denk- und Handlungsempfehlungen auf Leadership messen zu können, braucht es zukünftig weitere empirische Untersuchungen. Da die vedische Philosophie aber betont, dass die Führung anderer mit der Selbstdisziplinierung beginnt, kann dieser Appell auch über Leadership hinaus gehen. Allgemeiner interpretiert, legt die Bhagavad Gita allen nahe, über den Weg der Selbstbeobachtung die dargelegten Einstellungen auszuprägen und herauszufinden, wie sie das individuelle und gemeinschaftliche Wohlergehen verändern. Diesen Appell an ein kleines Selbstexperiment trage ich gerne an die Leser:innenschaft weiter.
1 Auf Deutsch müsste eigentlich von Führungskräften und Folgenden gesprochen werden, jedoch sind die englischen Begriffe in der wissenschaftlichen Fachsprache klar definierte Konstrukte. Leadership beschreibt dabei den Prozess, bei dem eine Person eine Gruppe von Personen beeinflusst, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
Quellen:
Dyllick, T. and Muff, K. (2016). Clarifying the Meaning of Sustainable Business: Introducing a Typology From Business-as-Usual to True Business Sustainability. Organization & Environment, 29(2):156–174.
Riggio, R. E., & Newstead, T. (2023). Crisis leadership. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, 10(1), 201-224.
Hinweis: Die Schreibweisen der hinduistischen Begriffe variieren oftmals in der Literatur.
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