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#Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation #WissensWerte

#WissensWerte: "Von Haltungsprämissen und Handlungsvermögen"

Elena M. Römer, Dissertation Plus-Stipendiatin

Für viele Menschen in Deutschland und anderen westlichen Ländern sind die letzten Jahre von Unberechenbarkeit und der Erfahrung neuer Unsicherheiten geprägt gewesen: Das Erleben einer globalen Pandemie, Krieg in Europa und das Aufstreben rechter Kräfte in der Politik zahlreicher westlicher Länder hat viele erschüttert. Zusätzlich bringen diverse zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich gegen Diskriminierung oder für einen ungekannt radikalen Klimaschutz einsetzen, langbestehende Orientierungen ins Wanken. Es verwundert daher nicht, dass in vielen verschiedenen Kontexten das Bedürfnis danach wächst, dass Menschen, Organisationen, Instanzen jeder Art endlich Haltung zeigen sollten. Unabhängig davon, ob die Forderung, Haltung zu zeigen, im Privaten gestellt wird, sich an eine öffentliche Person richtet oder an ganze Organisationen, zielt sie darauf ab, Werte klarzustellen und damit eine Orientierung zu bieten – im Kleinen wie im Großen. Das heißt, der Ruf nach Haltung äußert sich vor dem Hintergrund einer gewissen Haltlosigkeit. Während man geradezu von einem Haltungsimperativ sprechen kann, ist zugleich völlig unklar, was sich hinter diesem Begriff eigentlich verbirgt. Neben der genaueren Betrachtung des Phänomens der Haltung an sich verdient das Thema auch im Zusammenhang mit Organisationen eine besondere Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil diese mitunter mächtige Systeme sind, sondern weil es auch dabei helfen kann, die eigene Organisation besser zu verstehen und zu gestalten.

Theoretische Verflechtungen

Während die spezifischen Themen, in deren Zusammenhang dieser Anspruch häufig auftaucht, selbst oft komplex sind, kommt durch den Haltungsbegriff noch zusätzliche Unschärfe in den jeweiligen Diskurs. Den Terminus besser zu verstehen, birgt jedoch sowohl privat als auch für Organisationen das Potenzial, sich für alle Bereiche, in die Haltung einwirkt, neue Perspektiven zu verschaffen. Sich dem Thema zu entziehen, ist hingegen zwecklos, denn es gibt keine Dimension des Sozialen, die nicht von Haltung durchtränkt ist.

Die Komplexität des Begriffs entspringt einem paradoxen Zusammenspiel mehrerer Prinzipien. Grundlegend betrachtet ist es unmöglich, keine Haltung zu haben. Sowie der Mensch in der Welt ist, muss er sich auf alles um sich herum beziehen; sich zu allem verhalten. In einem enger gefassten Verständnis ist es aber möglich, bewusst und mit einer Absicht eine bestimmte Haltung zu wählen. So gibt es die Möglichkeit, auf das, was die eigene Person ausmacht, gestalterisch Einfluss zu nehmen und sich reflexiv der eigenen Person im Kontext einer Umwelt gewahr zu werden.[1] Drei wesentliche Merkmale, von der Philosophin Frauke Kurbacher herausgearbeitet, machen die paradoxe Multidimensionalität des Begriffs deutlich: Haltung ist nicht im luftleeren Raum, sondern nur relational denkbar. Sie findet also nicht, oder nicht nur, in ihren Referenzpunkten, den Individuen statt, sondern vor allem in deren Zwischenräumen. Das können zum Beispiel Handlungen oder Strukturen sein. In dieser Dynamik der Reflexivität steckt die nächste Eigenschaft, die Prozessualität. Denn nur durch Handlungen, also Praxis, kann man sich auf das jeweils andere beziehen. Und Handlungen sind wiederum prozessual. Haltung ist also zwangsläufig auch an Handlungen gebunden. Im Kontrast zu diesen beiden dynamischen Eigenschaften steht nun der statische Zustand, eine bestimmte Haltung zu haben. Und sie gewinnt sogar an Stabilität, je häufiger sie praktiziert wird.[2] Das Dynamische und Statische sind im Konzept Haltung also eng miteinander verwoben.

Durch diese drei Dimensionen betrachtet wird erkennbar, weshalb der Haltungsbegriff auf so unterschiedliche Weisen verstanden werden kann. So könnte er als ein dynamisches Phänomen gesehen werden, das permanenter Entwicklung unterworfen ist. Andererseits wird Haltung aber mit einer Grundeinstellung assoziiert, die konsistent ist und eine gewisse Stabilität aufweist. Durch diese Stabilität mag es für manche das Entscheidende sein, sich klar zu einer Haltung zu bekennen, während sie für die nächsten nur dann aufrichtig und authentisch ist, wenn dem auch sichtbare Handlungen folgen. Und während man sich aus manchem Diskurs heraushält und keine Haltung einnehmen möchte, ließe sich auch argumentieren, dass keine Haltung zu haben unmöglich ist. Ist es also hilfreich, diese verschiedenen Bedeutungsebenen nebeneinander stehen zu lassen? Angesichts der Dringlichkeit, mit der der Begriff dieser Tage verwendet wird, lohnt es sich, über die Anschlüsse solch theoretischer Überlegungen nachzudenken.

Farben der Haltung

Haltung ist nun eigentlich ein Phänomen, das auf das Individuum verweist. Es bezeichnet eine zutiefst persönliche Dimension, die das eigene Innenleben widerspiegelt. Doch sie manifestiert sich in den uns umgebenden Gefügen und Umwelten, auf die sich alle Haltungen beziehen und zu denen auch Organisationen gehören. Das heißt, auch alle organisationalen Prozesse und Strukturen sind von Haltungen eingefärbt, denn sie sind nichts anderes als „Produkte menschlicher Praxis“[3].

Haltung lässt sich im Zusammenhang mit Organisationen von ihren Referenzpunkten, den Personen, als auch von den Räumen zwischen diesen Punkten aus betrachten. Beide Perspektiven gehören zum größeren Bild dazu. Die Haltung einer Organisation hängt also nicht nur von einer bestimmten Person ab, selbst wenn manche Personen einen größeren Einfluss haben als andere, sondern spielt sich ebenso in den Zwischenräumen ab. Im Fall der Organisation wären insbesondere Strukturen und Prozesse zu nennen. Denn Haltung hat ihren Ausgangspunkt zwar beim Individuum, entfaltet und realisiert sich aber im Dazwischen. Das, was in diesen Zwischenräumen bleibt, löst sich von der Person und wirkt unabhängig von den ursprünglichen Referenzpunkten weiter. Insofern kann Haltung sowohl verengt und in Abhängigkeit einer bestimmten Person als auch auf einer Metaebene als Phänomen betrachtet werden. Zur Perspektive der konkreten Referenzpunkte gehört die Tatsache, dass die Handlungsfähigkeit einer Organisation immer dann maßgeblich von Haltung abhängt, wenn sie nicht mehr nach „Schema F“ verfahren kann. Die Entscheidungen der verantwortlichen Person(en) werden dann von ihren Haltungen gelenkt. Die Möglichkeit, in diesen schwierigen Situationen den Dingen aktiv begegnen zu können, bezeichnet der Philosoph Philipp Wüschner auch als Ereignisfähigkeit.[4] Haltung ist damit auch ein interessantes Konzept hinsichtlich der Resilienz einer Organisation. Resilienz meint gemeinhin, dass sich ein Subjekt oder Objekt gegen eine unfreundliche oder gar lebensfeindliche Umwelt behaupten kann, sich also durch Widerstandsfähigkeit und Stabilität auszeichnet. Es geht darum, sich den gegebenen Umständen so anzupassen, dass man sie übersteht. Der Begriff bietet jedoch rein definitorisch keinen Raum des selbstbestimmten (politischen) Handelns, gegebene Zustände nicht hinzunehmen, sondern sie aktiv zu gestalten. So wird die Verantwortung für schlechte Zustände auf das resiliente Subjekt oder Objekt einfach abgewälzt, indem es eben selbst damit fertig werden muss. Kurz, Resilienz beschreibt einen passiven Begriff. Haltung beinhaltet ebenfalls Widerständigkeit und Stabilität, bezeichnet aber einen aktiven Begriff. Denn sie konstituiert sich ausschließlich in ihrer Ausübung, in ihrer permanenten Praxis der Reflexivität. Sie ist deswegen notwendigerweise konstruktiv und gestaltend.[5] Eine Organisation mit Haltung wäre, nach dieser Lesart, daher besser dran als eine resiliente.

Zur Perspektive der Zwischenräume gehört die gelebte Praxis. In den meisten Organisationen wird Haltung weniger abstrakt und daher alltagstauglicher in einem Leitbild oder ähnlichen Konzepten festgeschrieben und so nach innen und außen kommuniziert. Das Leitbild und die Haltung unterscheiden sich jedoch in der Weise, dass ersteres das werteorientierte Ziel beschreibt, nach dem eine Organisation strebt. Letzteres nimmt zwar auch darauf Bezug, bezeichnet aber nicht das Ziel, nach dem gestrebt werden soll, sondern das Streben selbst. Das mag wie Wortklauberei wirken, hat jedoch einen Einfluss darauf, ob das Handeln mit der kommunizierten Haltung im Einklang ist. Das Konzept der Haltung ganz auszuschöpfen, würde bedeuten, sich nicht nur mit bestimmten Werten beziehungsweise einem Leitbild zu befassen, sondern auch mit den Strukturen und Prozessen der Organisation, die nach diesem ausgerichtet sein müssen. Diese müssen es den Individuen beispielsweise ermöglichen, nach der von der Organisation gewollten Haltung überhaupt zu handeln.[6] Durch das Einbeziehen der Strukturen und Prozesse wird sie glaubhaft und ermöglicht, dass Haltung und Handlung im Einklang sind. Drei Beziehungen beschreibt Philipp Wüschner, in denen sich eine gelungene Haltung bewähren muss: (1) Im Kontext der jeweiligen Umwelt, (2) im Bezug darauf, wo man herkommt und (3) wo man hinmöchte.[7]

And so what?

Was nützen aber diese theoretischen Modelle in Bezug auf Haltung im Alltag? Zum einen erleichtern Konzepte insbesondere für Organisationen den produktiven Umgang mit solch abstrakten Phänomenen. Vor allem aber bieten sie ein Vokabular, das es ermöglicht, die feinen Unterschiede bestimmter Aspekte in der gelebten Praxis zu erkennen, zu benennen und zu berücksichtigen. Das heißt, die Differenzierung in Begriffen und damit die bloße Erweiterung unseres Vokabulars kann angewandte Praxis verändern, gestaltet sie zumindest reflektierter. Praxis kommt zwar auch ohne philosophische Reflexionen aus, und Organisationen können erfolgreich sein, ohne je über derlei Metafragen nachgedacht zu haben. Doch gerade, wenn bewährte Modelle an ihre Grenzen stoßen oder lang bestehende Orientierungslinien ins Wanken geraten, werden als selbstverständlich erachtete ontologische Kategorien neu hinterfragt. Die Rolle der Theorie ist es dann, Konzepte anzubieten und Praktiken in einem neuen Licht zu zeigen.

Haltung entpuppt sich bei näherer Betrachtung weder als ein rein individuelles Phänomen noch als eines, das sich in Strukturen oder Leitlinien einer Organisation festschreiben lässt. Um dem Phänomen auf den Grund zu gehen, müssen sowohl die Personen als Ausgangspunkte als auch die Zwischenräume, in denen sich Haltung ausdrückt, in den Blick genommen werden. Als Akt von Bezüglichkeit, der nicht jenseits von Zeit und Raum stattfindet, hat Haltung außerdem stets einen Bezug zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Ausgangspunkts. Sie ist dadurch zum Beispiel eng mit der Identität einer Organisation verflochten.

Die Beschäftigung mit dieser multidimensionalen Lesart von Haltung erschließt die feinen Linien – man könnte auch sagen, es macht die Mikrodynamiken und Interdependenzen zwischen der individuellen und der strukturellen bzw. organisationalen Ebene sichtbar. Besonders interessant wird es, wenn man die Mehrdeutigkeit und die Paradoxien des Phänomens Haltung nicht versucht aufzulösen, sondern aus ihnen schöpft. Dann kann Haltung nämlich Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst oder mit der Organisation sein.

 


Literatur

Herzog, Lisa: Reclaiming the System. Moral Responsibility, Divided Labour, and the Role of Organizations in Society. Oxford u, Oxford University Press 2018.

Kurbacher, Frauke A.: „Was ist Haltung? Philosophische Verortung von Gefühlen als kritische Sondierung des Subjektbegriffs“, in: tà katoptrizómena. Magazin für Religion, Ästhetik und Kultur 43 (2006), https://www.theomag.de/43/fk6.htm (abgerufen am 02.12.2021).

Kurbacher, Frauke A.: „Interpersonalität zwischen Autonomie und Fragilität. Grundzüge einer Philosophie der Haltung“, in: Kurbacher, Frauke A. und Philipp Wüschner (Hrsg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 145–162.

Rohde, Stephanie: „Was heißt Haltung zeigen?

Slaby, Jan: „Kritik der Resilienz“, in: Kurbacher, Frauke A. und Philipp Wüschner (Hrsg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 273–298.

Tsoukas, Haridimos und Robert Chia: „Introduction: why philosophy matters to organization theory“, in: Tsoukas, Haridimos und Robert Chia (Hrsg.): Philosophy and Organization Theory, Bd. 32, Emerald Group Publishing Limited 2011 (Research in the Sociology of Organizations), S. 1–21.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Kurbacher, Frauke A.: „Interpersonalität zwischen Autonomie und Fragilität. Grundzüge einer Philosophie der Haltung“, in: Kurbacher, Frauke A. und Philipp Wüschner (Hrsg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 145–162.

[2] Vgl. Kurbacher, Frauke A.: „Was ist Haltung? Philosophische Verortung von Gefühlen als kritische Sondierung des Subjektbegriffs“, in: tà katoptrizómena. Magazin für Religion, Ästhetik und Kultur 43 (2006), https://www.theomag.de/43/fk6.htm (abgerufen am 02.12.2021); Kurbacher: „Interpersonalität“.

[3] Tsoukas, Haridimos und Robert Chia: „Introduction: why philosophy matters to organization theory“, in: Tsoukas, Haridimos und Robert Chia (Hrsg.): Philosophy and Organization Theory, Bd. 32, Emerald Group Publishing Limited 2011 (Research in the Sociology of Organizations), S. 1–21, hier S. 7.

[4] Rohde, Stephanie: „Was heißt Haltung zeigen?“

[5] Vgl. Slaby, Jan: „Kritik der Resilienz“, in: Kurbacher, Frauke A. und Philipp Wüschner (Hrsg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 273–298.

[6] Die Philosophin Lisa Herzog hat über diese Idee ein empfehlenswertes Buch geschrieben: Herzog, Lisa: Reclaiming the System. Moral Responsibility, Divided Labour, and the Role of Organizations in Society. Oxford u, Oxford University Press 2018.

[7] Hören Sie hierzu das Interview im Deutschlandfunk: Rohde: „Was heißt Haltung zeigen?“

 


 

Über Elena Römer

Elena Römer ist DissertationPlus-Stipendiatin und promoviert am Institut für Kultur- und Medienmanagement (KMM) der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Zuvor hat sie ihren Bachelor in Musikwissenschaft und Interkulturelles Musik- und Veranstaltungsmanagement an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar gemacht, gefolgt vom Master am KMM. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den philosophischen und soziologischen Perspektiven des Kulturmanagements, mit Organisationstheorien sowie Cultural Leadership.

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