#Ehrenamt #waszählt! #Wissenschaft
Ziviles Engagement und Studium verbinden
Cornelia Springer, Wissenschaftliche Koordination „Engagementförderung durch universitäre Lehre“
Engagementförderung durch universitäre Lehre unter Pandemie-Bedingungen
Das Projekt „Engagementförderung durch universitäre Lehre“ an der Universität Hamburg will ziviles Engagement von Studierenden stärken und die kritisch-reflektierte Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen fördern. Seit dem Sommersemester 2020 wird mit Unterstützung der Claussen-Simon-Stiftung ein neues Studienprogramm mit Service Learning-Schwerpunkt im Studium Generale angeboten: „Ziviles Engagement und Studium verbinden“. Die Teilnehmenden bestimmen selbst über das Feld und die Zielgruppe ihres Engagements sowie ihre institutionelle Anbindung. Angesichts der durch die Corona-Pandemie erforderlichen Maßnahmen wurde das Programm im Sommersemester kurzfristig methodisch-didaktisch sowie inhaltlich überarbeitet und an die Anforderungen digitaler Lehre und kontaktlosen Freiwilligenengagements angepasst. Dieser Beitrag liefert eine Revue des ersten „Corona-Semesters“ und gibt einen Eindruck davon, wie engagementfördernde Lehre unter Pandemie-Bedingungen gelingen kann.
Engagementförderung in der Hochschullehre – trotz Corona
Die Corona-Pandemie hat umfangreiche Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche der Gesellschaft. In den ersten Wochen der Pandemie und des Shutdowns war ein deutlicher Zuwachs an gesellschaftlicher Solidarität zu beobachten. Zugleich gehört eine starke Zunahme von Egoismen zu unserer kollektiven Erinnerung an das Frühjahr 2020. Aus der zeitlichen Distanz einiger Monate wirken die leeren Supermarktregale, die auf Hamsterkäufe von Toilettenpapier, Nudeln und Konserven zurückzuführen waren, eher komisch denn dramatisch. Ganz im Gegensatz zum Erstarken der sogenannten Querdenker-Bewegung und einer zunehmenden Präsenz radikaler, verfassungsgefährdender Haltungen und rechtsextremer Rhetorik.
Herausforderungen für die Studierenden im ersten „Corona-Semester“
Auch in Bildungseinrichtungen gestaltete sich der Alltag in vieler Hinsicht anders als gewohnt, sodass das erste „Corona-Semester“ Studierende und Lehrende vor große Herausforderungen stellte. Die spontane Umstellung auf digitale Lehre war nicht nur ein organisatorischer Mehraufwand und mit Unsicherheiten bezüglich der Funktionalität digitaler Konferenz- und Moderationstools verbunden. Auch erwies sich das lange Sitzen vor Bildschirmen, ohne persönliche Begegnungen, als anstrengend und der Hochschulalltag als wenig abwechslungsreich. Im Vorfeld befragt, welche Gedanken und Befürchtungen die Teilnehmenden des Projektseminars „Ziviles Engagement und Studium verbinden“ mit Blick auf das bevorstehende Digitalsemester umtrieben, äußerten sich die meisten unbesorgt bis zuversichtlich. Abgesehen von diesem optimistischen Tenor mit Blick auf das Studium, bezogen sich nachdenklichere Stimmen jedoch auf die Gesellschaft als ganze und formulierten die vorausschauende Sorge, dass die Pandemie weitreichende Konsequenzen und insbesondere zusätzliche Benachteiligungen für Menschen mit sich bringen würde, die ohnedies zu einer marginalisierten Gruppe gehörten und deren Zugänge zu Ressourcen auch vor Corona eingeschränkt waren. Die anfängliche Euphorie über entfallene Anfahrtswege, die neu gewonnene Freiheit, im virtuellen Seminarraum jederzeit frischen Kaffee holen und die Seminare vom eigenen Balkon oder Garten aus besuchen zu können, wich nach einigen Wochen einer deutlichen Ernüchterung. Denn das veränderte Setting verlangte den Studierenden ein hohes Maß an Flexibilität, Geduld und Selbstdisziplin ab. Viele vermissten den informellen Austausch mit Kommiliton:innen nach Lehrveranstaltungen und in der Mensa sowie die wechselseitige Motivation in Lerngruppen. So wie die Pandemie Berufstätige in zahlreichen Branchen, darunter Gastro- und Beherbergungsgewerbe, Kultur- und Kreativwirtschaft, hart getroffen hat, brachen auch studentische Neben- oder Aushilfsjobs und damit Einkünfte weg und sahen sich Studierende stärker als zuvor mit finanziellen, z.T. existenziellen Herausforderungen konfrontiert. Die potenziellen Auswirkungen der während der Pandemie aufgetretenen vielschichtigen emotionalen Belastungen auf die gesamte Studiensituation sollten nicht unterschätzt werden.
Service Learning trotz Corona
Hochschullehre, die sich auf gesellschaftliche Fragestellungen richtet und zudem auf intersektoraler Kooperation basiert, ist in mehrfacher Dimension von der Pandemie betroffen. Die Lehrveranstaltung „Ziviles Engagement und Studium verbinden“ sollte sich auch inhaltlich mit den Auswirkungen der Pandemie befassen. Pragmatisch wurde zur Prämisse erklärt, die inhaltliche Gestaltung flexibel zu halten, um der immensen Dynamik der Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die thematischen Schwerpunkte des Seminars sollten in Zeiten einer allgemeinen Verunsicherung explizit an den Bedürfnissen und Interessen der Teilnehmenden ausgerichtet sein und zudem die Themen und Fragestellungen aufgreifen, die im Kontext zivilen Engagements während der Pandemie besonders in den Fokus traten, wie die erwähnte verschärfte Marginalisierung vulnerabler Gruppen oder die Grundrechtedebatte. Ein weiterer Fokus der Lehrveranstaltung lag auf der Beschäftigung mit der Frage, wie die Verbindung von Studium und Freiwilligenengagement gelingen kann. Dabei spielte die Verknüpfung von im Studium erworbenem fachlich-theoretischem und methodischem Wissen mit dem praktischen Engagement genauso eine Rolle wie die zeitliche und organisatorische Vereinbarkeit. Insbesondere letztere musste unter den skizzierten ungewissen Bedingungen und in Anbetracht der Auswirkungen der Pandemie auf unser aller Alltagsstruktur neu verhandelt werden. Asynchrone Lehre fordert eine gute Selbstorganisation, da die durch den Stundenplan vorgegebene Tagesstruktur plötzlich fehlt. Hinzu kommt, dass die Trennung von privat und beruflich (für das Studium) genutztem Raum auch im studentischen Homeoffice oftmals gar nicht so einfach ist. Nicht jede Wohngemeinschaft eignet sich als Co-Working-Space und Internetanschlüsse geraten schnell an ihre Belastungsgrenze, wenn mehrere Nutzer:innen zeitgleich Lehrveranstaltungen streamen.
Gemäß den Corona-Auflagen der Universität Hamburg war Lehre im Sommersemester nur unter Einhaltung physischer Distanz möglich. Das Studienprogramm sollte trotzdem wie vorgesehen praktisch ausgerichtet sein und den Teilnehmenden die Möglichkeit bieten einem zivilen Engagement nachzugehen. Wie die meisten zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und Akteur:innen waren die vor Beginn der Pandemie akquirierten Kooperationspartner:innen jedoch zunächst ausgebremst und mussten ihre Angebote (vorübergehend) pausieren oder digitalisieren. Für die Lehre und das Service Learning bedeuteten die neuen Rahmenbedingungen folglich genauso ein Umdenken. Insgesamt hat die Zivilgesellschaft während des ersten Lockdowns sehr spontan auf die veränderten Bedingungen und Bedarfe reagiert, bestehende ehrenamtliche Angebote kreativ angepasst und ganz neue entwickelt. Initiativen der Nachbarschaftshilfe wie sie deutschlandweit ins Leben gerufen wurden, koordinierten Freiwillige, die Einkäufe erledigten oder Botengänge für Angehörige von Risikogruppen übernahmen. Solche Einsätze waren im Rahmen der Lehrveranstaltung wegen des Kontaktverbots aber ebenso ausgeschlossen wie z.B. die Unterstützung von Essensausgabestellen für Bedürftige, die zügig Hygienekonzepte entwickelt und den Betrieb wieder aufgenommen hatten. Hier bestand ein erhöhter Bedarf an Personal, u.a. weil ältere Ehrenamtliche, die selbst zur Risikogruppe zählten, die Tätigkeiten nicht weiter ausüben konnten. Doch musste auch dem Gesundheitsschutz der Studierenden Rechnung getragen werden. Kurzfristig ergaben sich alternative, v.a. digitale Möglichkeiten für freiwilliges Engagement. Online-Nachhilfe und -Mentoring, aber auch Deutsch-Sprachtraining für Nichtmuttersprachler:innen waren sehr gefragt. Unabhängig von der digitalen Form der Ausübung, entsprachen diese Felder inhaltlich zum Großteil aber nicht den Interessen der Studierenden. Die Suche nach einem wirklich passenden Engagement und (virtuellen) Einsatzort gewann einen hohen Stellenwert. Die Studierenden wählten bewusst nicht den Weg des geringsten Aufwands, indem sie sich einfach bei einer der vielen Online-Plattformen registrierten und dort ihre Stunden ableisteten. Vielmehr nahmen sie die Mühe einer akribischen Sondierung auf sich, um mit ihrer Wahl eine überlegte Entscheidung für ein Engagement treffen zu können, das sie perspektivisch auch nach dem Seminar fortsetzen könnten.
Um einen konkreten Eindruck zu geben, seien an dieser Stelle exemplarisch drei Engagementprojekte erwähnt, die von den Durchführenden auch auf der Blogseite (https://civic-engagement.blogs.uni-hamburg.de/) dokumentiert wurden. Eine Studierende der Soziologie und Erziehungswissenschaft hat bei ihrer Arbeit bei einem Kinder- und Jugendhilfeträger in der Kommunikation der Mitarbeiter*innen Unsicherheiten im Umgang mit Geschlechterdiversität festgestellt. Daraufhin hat sie sich selbstständig vertiefend theoretisch mit gendersensibler Sprache und Kommunikation befasst, eigens praktische Methoden entwickelt und einen Workshop für die Kolleg:innen konzipiert. Unter dem Titel „Pflanz die Wand an“ haben zwei Studierende der Geographie ein Projekt zur Fassadenbegrünung angestoßen. Ihre Recherchen und Interviews haben ergeben, dass die vielfältigen ökologischen und städtebaulichen Vorteile dieser Begrünungsform in Hamburg bis dato zu wenig genutzt werden. Mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen begrünen sie nun bekannte Gebäude der Stadt, um einen emotionalen Zugang zu der Thematik zu schaffen. Darauf aufbauend wollen sie über geeignete Medien vertiefende Aufklärungsarbeit betreiben und Fassadenbegrünung in der Hansestadt voranbringen. Vielversprechende Zukunftsmusik im Sinne einer grünen Utopie für Hamburg! Ein Team von vier Studierenden hat sich intensiv mit Möglichkeiten bildungspolitischer Arbeit rund um die Hamburger Obdachlosenhilfe auseinandergesetzt und das Projekt „Kein Dach über‘m Kopp“ entwickelt. Das Ziel ist der Aufbau einer Reihe von asynchronen Materialien zur Aufklärung und Sensibilisierung von Interessierten, die wenig oder kein Vorwissen zu der Thematik haben. Die Angebote sollen inklusiv und barrierefrei, d.h. mehrsprachig und niedrigschwellig gestaltet sein. Zudem werden durch Audio-Interviews Betroffenenperspektiven mit einbezogen.
Die Studierenden widerlegten den vielzitierten Generalverdacht einer politikverdrossenen Egogeneration. Im Gegenteil repräsentieren sie eine stark politisch denkende und handelnde Nachwuchsgeneration, die Gesellschaft kritisch reflektieren, sich einmischen, Verantwortung übernehmen will. Dabei spiegeln die gewählten Engagementfelder deutlich wider, welche lokal und global relevanten Fragestellungen sie beschäftigen – sodass das Seminar zum Raum für einen Austausch über die großen Herausforderungen unserer Zeit wurde, von Flucht/Migration über soziale Ungleichheiten und Intersektionalität hin zu Klima- und Umweltschutz. Und dies nicht primär durch den Input der Seminarleitung, sondern durch die erfahrungsbasierten Beiträge der Studierenden. So wurde ein kontemplativer und transdisziplinärer Austausch möglich.
Ziviles Engagement braucht feste Strukturen – auch ohne Pandemie
Die Pandemie stellt eine historische Zäsur dar – das wurde schon während der sogenannten ersten Welle von Sozialwissenschaftler:innen, Historiker:innen und Zukunftsforscher:innen betont. Unbestritten wirkt diese Krise in Teilen wie ein Katalysator gesellschaftlichen Wandels, man blicke nur auf den Digitalisierungsschub, der die Herausbildung ganz neuer Engagementformate beflügelte. Die Voraussetzung für nachhaltige Veränderungen ist jedoch, dass simultan zu spontanen kreativen und innovativen Bewältigungsprozessen tragfähige Strukturen geschaffen werden. Dazu gehört erstens der Ausbau fester Stellen in professionellen systemrelevanten Bereichen sowie zweitens die gezielte Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und NGOs. Denn zum wiederholten Mal wurde just in der Krise deutlich, dass eine starke, solidarische Zivilgesellschaft das Fundament für die Gesellschaft insgesamt bildet. Und zum Dritten bedeutet strukturelle Absicherung die Verankerung von Engagementförderung in formeller und informeller Bildung. Service Learning-Formate wie das hier besprochene eröffnen nicht nur besonders spannende und vielfältige Lernorte und schaffen in den dicht gedrängten Stundenplänen einen Raum für Selbstentfaltung, Bewusstwerdung der eigenen Fähigkeiten sowie Privilegien. Sie geben jungen Menschen die Chance, ihre Position und Rolle in der Gesellschaft zu finden und aktiv Verantwortung zu übernehmen – und stellen so einen zentralen Schlüssel für weitreichende Demokratiebildung dar.
Artikel kommentieren
Kommentare sind nach einer redaktionellen Prüfung öffentlich sichtbar.