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#Kultur

Wenn ich Deinen Text vor zehn Jahren gelesen hätte, dann hätte ich gedacht: Hier schreibt jemand, der alles verarbeitet hat

Suse Itzel, Bildende Künstlerin

Wie würden meine Videos auf YouTube heißen, wenn ich welche machen würde? VOM EIGENEN VATER MISSBRAUCHT, ICH BIN SURVIVOR, LEBENSLANGE DEPRESSIONEN DURCH SEXUELLE ÜBERGRIFFE IN DER KINDHEIT? Oder: WIE ES SICH ANFÜHLT: DU SITZT IM ZUG UND IRGENDWELCHE TYPEN, ANFANG 20, FAHREN ZU EINEM FUSSBALLSPIEL UND GRÖLEN: DER VATER FICKT DIE TOCHTER, DIE MUTTER, DIE SCHAUT ZU. Und ich denke: Scheiße, ich will das nicht hören. Das ist so…. meine Geschichte. Du denkst: Scheiße, ich will das so nicht hören. Und wenn Du Dich getraut hättest – in diesem Zug vor acht Jahren – dann hättest Du gefragt: Ey, Du, sag mal, wirst Du auch noch lachen, wenn es in der Zukunft Deine Tochter trifft? Du, wirst Du auch noch lachen, wenn es in der Zukunft Deinen Sohn trifft? Ey, wirst Du auch noch lachen, wenn Du erfährst, dass es Deine Mutter längst getroffen hat? Und Du? Wirst Du lachen, wenn Du erfährst, dass es Deine Schwester längst getroffen hat? Oder Deinen besten Freund? Den, der es Dir nie erzählen wird? Den, der irgendwann einfach nur nicht mehr mitkommt in die Fankurve? „Wovon man ernsthaft nicht sprechen darf, das kann man in einem Witz, einer Parodie, einer komischen Travestie ausdrücken“ heißt es in dem Radiobeitrag „Wie uns das Lachen verging“ des Deutschlandfunk. Ich habe es ernsthaft versucht.

Jemand sagt: Für einen Moment tritt eine Struktur hervor, und dann verschwindet sie wieder, wird wieder unsichtbar und verschwimmt mit dem Hintergrund. Und es ändert sich nichts. 
Jemand sagt: Ich kenne fast keine Frau, der nicht irgendwas passiert ist. 
Manche sagen: Ja, das ist ja heute normal, dass man darüber redet. 
Manche sagen nichts mehr, nachdem sie aus dem Raum mit meinen Wörtern wieder herausgekommen sind. Fast ist das so, als hätte sich meine alte Sprachlosigkeit kurzfristig auf sie übertragen.
Wie würden Sie reagieren, wenn Sie erfahren, dass eine Person, die Sie kennen, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde?

YouTube mache ich nicht. Aber, dass es nicht (mehr) unmöglich ist, die „eigene Geschichte“ und gegebenenfalls auch die Erfahrung sexualisierter Gewalt öffentlich zu erzählen, das habe ich dort gelernt. Anonym, mit einem geänderten Namen oder mit vollständigem Namen. Mit Gesicht oder nur von hinten mit Perücke. Doch, denke ich jetzt, so ein Internet, das hätte ich mir gewünscht, als ich jung war. Ebenfalls im Internet zu finden: die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, ein Archiv der Zeugenschaft. Systematisch archiviert die Kommission seit 2016 die (ihnen) erzählten und aufgeschriebenen Geschichten von Betroffenen. Ich suche nach (m)einem künstlerischen Vokabular, um mich öffentlich mitzuteilen.

Das vorletzte Wochenende im Januar 2022: Ab Freitagmittag sitze ich in der kleinen Gemeinschaftsküche in einem Hamburger Künstlerhaus, dem Goldbekhof. Am Ende des Ganges hinter geschlossener Tür das großzügige Gastatelier, in dem ich, als bildende Künstlerin, ein Jahr lang hatte arbeiten dürfen. Besucher:innen müssen klingeln, das Atelier ist kein öffentlicher Ausstellungsort. Die meisten von ihnen kenne ich – zumindest flüchtig: Es sind Kolleg:innen und Freund:innen. Die maskierten Besucher:innen müssen an mir vorbei und in der Pandemie muss ich ihre Daten aufnehmen. Danach begleite ich sie bis an die Ateliertür, sage ihnen, dass sie sich frei in der Rauminstallation bewegen können und weise zugleich auf die Sitzgelegenheiten hin. Ich sage: „Das Audiostück dauert 50 Minuten. Natürlich kann man jederzeit gehen.“ Ich öffne die Tür, und kurz höre auch ich meine körperlos gewordene Stimme – dort im Raum. Deine Stimme klingt wie meine Stimme. Etwas abgestumpft bin ich inzwischen. Zuerst ist es mir schwergefallen. Die Audio-Boxen sind in den aufgestellten Stoffquadern der Rauminstallation verstaut. Schämst Du Dich? Leise hatte ich die Tonspur machen wollen. Schämst Du Dich für mich? Diffus füllt der Klang den ganzen Raum. „Du solltest das schon laut machen, sodass man auch wirklich gut zuhören kann“, sagten mir die zwei befreundeten Kolleg:innen, die ich ein paar Tage vorher um Rat gebeten hatte. Jetzt, in der Küche, durch die geschlossene Türe, höre ich meine Stimme nur leise als hellen Klang. Alle Zeilen, die ich aus meinem Sprechstück in diesen Text hier übernehme, sind kursiv gesetzt.

Ich wollte keine Leute da haben, denen das „Thema“ dann zu „anstrengend“ wäre. Ich hatte keine Lust gehabt auf Aber-das-geht-doch-nicht-ohne-Triggerwarnung. So etwas sagt man nicht. Warum ich plötzlich so etwas mache? Mama, er fasst mich komisch an. Warum haben Sie sich ausgerechnet so ein schweres Thema ausgesucht? So etwas sagt man nicht ohne Grund. Ich habe es nicht gesucht, und ich habe es nicht gefunden. Mama, ich will keine sein, die immer schweigt. Ich habe es mir nicht ausgesucht. Ich hatte keine Lust gehabt, es zigmal zu erklären: die Heimsuchung. Mama, er lässt mich einfach nicht in Ruhe nachts. Es lässt mir keine Ruhe. „In dem Audiostück ES GIBT KEIN FIEBER, DAS MAN NICHT MESSEN KANN geht es um sexuellen Missbrauch.“ Überrumpeln und gefährlich überfordern wollte ich niemanden. Damit hätte auch ich mich überfordert.

Ein paar Tage vorher hatte ich die Einladungsmails mit einem Text verschickt. An mein Adressbuch und an den Kultur-Verteiler in der Stadt:
„In dem autobiografisch gefärbten Sprechstück 
ES GIBT KEIN FIEBER, DAS MAN NICHT MESSEN KANN wendet sich eine Tochter an ihre verstorbene Mutter. Was hättest Du gesagt, wenn ich zu Dir gekommen wär‘ mit 10?
Der Vorwurf der Tochter: Du warst nicht ansprechbar. Du hast mich nicht beschützt. 
Die Mutter hätte die sexuellen Übergriffe des Vaters womöglich gar nicht sehen wollen.
Die Totenklage wird zur Anklage.
Die grüne Wohnzimmer-Couch ist zur Bastion aufgetürmt.
Die Stimme der Tochter imaginiert eine Trauerrede: Was hätte in einer Trauerrede über die gestorbene Mutter gesagt werden können, wenn es eine Trauerrede gegeben hätte?
Wie viele Sexualstraftäter:innen kennen Sie? 
Glauben Sie, dass eine Person, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden ist, später ihre Sexualität genießen kann? 
Die Stimme der Tochter imaginiert einen Nachruf: Wie hätte Gudrun I. als Mutter konsequent handeln können, wenn die Tochter ihren Vater in jüngeren Jahren schon bezichtigt hätte?“

Die meisten Besucher:innen hören die ganzen 50 Minuten, gehen raus, nachdem sich die gesprochene Stelle, bei der sie eingestiegen sind, wiederholt hat. Manche gehen dann auch ganz schnell, bedanken sich noch kurz, wollen dann vielleicht lieber mit sich alleine sein. Manche kommen nach einer Zigarette draußen nochmal wieder. Irgendwann gehe ich dazu über manche Gäste vorher noch ein bisschen bei mir in der Küche zu behalten – für eine andere Unterhaltung. Die Stimmung danach ist eine andere. Weinen hinter der Maske. Manche fragen nach: wie diese Arbeit entstanden ist. Oder: wie es mir jetzt damit geht. In der kleinen Küche entstehen seltsame Situationen. Emotionen, die sonst privat bleiben, werden geteilt. Jemand sagt zu mir: Es ist doch nicht Deine Aufgabe mich jetzt zu trösten. Ich fühle mich verantwortlich. Manchmal glaube ich ja sogar, ich müsste besonders lustig sein: um es wieder wett zu machen. Jemand sagt: Ich finde die Form, die Du gefunden hast, ganz toll. Jemand sagt: Ich finde das so gut, dass Du das machst. Ich sage: Aber manchmal denke ich: Ich verbreite doch einfach nur den Schmerz und die Traurigkeit. Jemand sagt: Aber der Schmerz ist doch schon da. Den hast Du doch nicht verursacht. Manchmal schäme ich mich.

„Aber nichts erscheint eindrücklicher als das Zeugnis der Betroffenen selbst: ihre Worte und Schilderungen der Gefühle, die abwechselnde Sprachmacht und Sprachlosigkeit, mit der beschrieben wird, was damals geschehen ist, und ihre Fassungslosigkeit angesichts des Schweigens des Umfelds und der Gesellschaft“, schreiben Brigitte Tilmann und Kathrin Power, beide Mitglieder der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“. Ihr Beitrag „Ich dachte, ich bin die Einzige“ ist auf der Internetseite der Kommission zu finden.

Die Sprachlosigkeit beschreiben, das finde ich schwer. Ich suche nach (m)einem künstlerischen Vokabular. ES GIBT KEIN FIEBER, DAS MAN NICHT MESSEN KANN ist langsam gewachsen. Bereits seit 2018 arbeite ich an einem autobiografischen Film. Auch das Voiceover dieses Films erzählt von den sexuellen Übergriffen meines Vaters und von den Auswirkungen, die eine derartige Gewalt haben kann. Stück für Stück habe ich mich vorangetastet: Zaghaft habe ich zuerst von dem unfertigen Film erzählt, bevor ich ihn ganz langsam nach und nach einigen Menschen gezeigt habe. Zuerst sind das einzelne Lehrende an der Kunsthochschule für Medien in Köln gewesen, denen ich vertraut habe. Dann waren es ein paar meiner engsten Freund:innen. Und später habe ich den Rohschnitt in verschiedenen Seminar-Kontexten vorgestellt. Getestet habe ich, ob ich es überhaupt verkrafte, dass jetzt genau das gehört wird, was ich so lange Zeit möglichst versteckt gehalten habe. Allein diese noch unveröffentlichte Vorarbeit hat es mir möglich gemacht, den FIEBER-Text jetzt in einem halben Jahr zu schreiben. „Kein Entkommen“ hat das Seminar für szenisches Schreiben geheißen. Wie passend.
Die Couch aus grünem Frottee ist zuerst für meinen Film entstanden: ein vergrößerter Nachbau der Wohnzimmer-Couch in meinem Elternhaus. In dem Jahr meines Atelierstipendiums habe ich sie weiter wachsen lassen. Froh war ich, wenn ich nach dem Schreiben mit der Nähmaschine über meine Gedanken rattern konnte. Immer mehr ist die Couch-Attrappe so in meinen Raum hineingewachsen. Schwarze und weiße Teile sind dazugekommen. Quader um Quader – als Barrikade oder als vermeintliche Stellvertreter in einer therapeutischen Aufstellung? Ein Couchteil ist unter der Kaskade von Wachs zusammengesackt. Den Trauerrand habe ich dem Raum zum Schluss verpasst: Ein schwarzer Absatz an den beiden Längswänden. Als dunkel habe ich das elterliche Wohnzimmer im Kopf behalten. Oberhalb der schwarzen Farbe, ungefähr auf Kopfhöhe, zieht sich an den Längswänden des Ateliers über die Länge von 12 Metern links und rechts ein fünfzeiliges Band aus schwarzen Buchstaben. „Es ist eine Gratwanderung, über sexuellen Missbrauch zu schreiben. Wie explizit darf man sein, soll man die Tat beschreiben, und was kann den Leserinnen und Lesern zugemutet werden?“, heißt es in dem Beitrag von Tilmann und Power. „Wie kann man Voyeurismus vermeiden und sich selbst schützen?“ Mama, weißt Du was hier an der Wand geschrieben steht? heißt es an einer Stelle im FIEBER-Text. Einzeltherapie, Exposition: Sitzung 1 und Sitzung 9. Exposition: Ich setzte mich aus. In den Untiefen meiner Festplatten sind noch immer die Audio-Aufnahmen aus meiner Traumatherapie von 2017 gespeichert. „Gemeinsam mit unserem Therapeuten oder unserer Therapeutin müssen wir uns ab der 5. Woche in den Therapiesitzungen direkt mit unserem Trauma auseinandersetzen. In der Einzeltherapie soll ich zweimal pro Woche immer wieder dieselbe Missbrauchssituation erzählen. Jede Therapiesitzung wird aufgezeichnet. An den Tagen, an denen keine Einzeltherapie stattfindet, soll ich mir die Audioaufnahmen der letzten Therapiestunde alleine anhören“, erkläre ich in meinem Film. Für die Buchstaben-Bänder über dem schwarzen Absatz habe ich zwei dieser Therapiesitzungen Wort für Wort transkribiert. Digital habe ich die Transkripte übereinandergelegt, bevor ich sie per Folie auf die Wand übertragen habe. Die Blicke der Besucher:innen suchen in der Überlagerung. Die Sätze bleiben unlesbar – verschwommen. Auffindbar: einzelne Worte. Nur am Ende eines Bandes ist ein Rest offengeblieben: DECKE BIS ZU DEN HÜFTEN. ICH HAB’ ANGST, DASS DARUNTER ALLES VOLLER BLUT IST, DASS ICH ‘NE WUNDE HABE.

„Das Sprechen kann im besten Fall ein später Triumph über den Täter sein. Manche Betroffene beschreiben es auch als ein Loslösen, als das Kappen der Verbindung, die immer noch fortbestand. Es gibt nun kein Geheimnis und kein Schweigegebot mehr, das die Betroffenen an den Täter bindet“, schreiben Tilmann und Power. Mein Kopf hat beschlossen, zu sprechen. Das Eingesprochene läuft vom Band und ich stumpfe ab gegen meinen Text und gegen meine Stimme. Wie sehr das Schweigegebot aber immer noch in meinen Körper eingeschrieben ist, merke ich an seiner regelmäßig wiederkehrenden Rebellion. Immer wenn es ansteht, jemandem meine Arbeit zu zeigen oder irgendeine Veröffentlichung – und sei die Öffentlichkeit noch so klein: Hallo Schmerzen, seid ihr wieder da? Im Unterleib links unten, in dem schweren Atmen, oder was habt ihr Euch diesmal ausgedacht? Vorher oder nachher? Hallo Panik, ich kenn Dich doch längst und muss Dir trotzdem wieder eine Nacht abtreten. Ist da noch die alte Angst: Ach, mein geliebter Schatz, erzähl der Mama nicht, dass der Papa nochmal bei Dir war, um Dich zu trösten in der Nacht? Oder ist es eine andere, eine neuere Angst? „Ich finde das mutig.“ Das habe ich oft gehört. Nie hatte ich den Mut zu fragen: Warum findest Du das mutig? Ich habe Vermutungen. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie erfahren, dass eine Person, die Sie kennen, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde? Eindrücklich ist mir das anonymisierte Zitat einer Betroffenen auf der Internetseite der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ im Gedächtnis geblieben: „Die Erfahrung des Missbrauchs ist und bleibt ein Teil von mir. Aber ich habe die Hoffnung, dass es eines Tages möglich sein wird, mit anderen Menschen darüber zu kommunizieren, ohne Angst haben zu müssen, nicht mehr als ganzer Mensch gesehen zu werden, sondern nur noch als Opfer.“

Ich suche nach (m)einem künstlerischen Vokabular. Nicht, weil ich das für besser halte, sondern weil ich Künstlerin bin. Ich brauche diesen Filter. Ich nehme mich als Beispiel. Erleichtert bin ich jetzt zumindest um die Angst, die ich früher hatte: Was, wenn es jemand errät? Was, wenn jemand etwas herumerzählt, das ich nur im Vertrauen gesagt hatte? Ich nehme mich als Beispiel – aber ich gebe nur etwas, das mir aufgezwungen worden ist (zurück). Mich gibt es darin nicht. In ES GIBT KEIN FIEBER, DAS MAN NICHT MESSEN KANN formuliert es (m)eine Stimme, indem sie in eine Perspektive wechselt, in der sie die Tochter (mich selbst) und deren (meine) Mutter, Gudrun I., für einen imaginierten Nachruf von einem möglichst weit entfernten Außenpunkt betrachtet: Man hätte ihr (Gudrun I.) gerne einen anderen Ehemann und eine andere Tochter gewünscht. Der anderen Tochter hätte man gerne eine andere Mutter gewünscht. Wenn Gudrun I. sich diesen Mann nicht ausgesucht hätte, dann hätte dieser Mann vielleicht eine andere Ehefrau und eine andere Tochter gehabt. Vielleicht hätte dann die andere Tochter jetzt den gleichen Text geschrieben.

Längst weiß ich, dass der hintere Teil des Titels „Ich dachte, ich bin die Einzige“ ein Gefühl beschreibt – keine Tatsache. Ein Blick in das Internet reicht dazu heute aus. Jedes Mal, wenn ich ES GIBT KEIN FIEBER, DAS MAN NICHT MESSEN KANN in irgendeiner Form öffentlich gezeigt habe, sind auch andere Künstler:innen auf mich zugekommen, die aufgrund der eigenen Geschichte an demselben „Thema“ arbeiten. Einsam fühle ich mich trotzdem oft. Manchmal habe ich Angst, dass ich mich hiermit in meine Traurigkeit noch hineinschreibe. Ich schreibe sie auf, ich halte sie fest?

Ich bin müde. Hallo Panik, hallo Angst, was wirst Du diesmal wieder von mir haben wollen, wenn dieser Essay hier ins Netz gestellt wird? Ja, Panik, ich werde Dir schon irgendetwas geben: eine schlaflose Nacht, eine ganze Menge Atemübungen oder ein verweintes Gesicht. Nur mein Schweigen, das bekommst Du nicht.
Jemand sagt: Wenn ich Deinen Text vor zehn Jahren gelesen hätte, dann hätte ich gedacht: Hier schreibt jemand, der alles verarbeitet hat. Ich schreibe, den Blick auf ein Ziel gerichtet, auf das ich hinschreibe, zuschreibe, das ich anschreibe. Was sage ich, wenn ich meinen Text in zehn Jahren lese? „Denn die eigene Geschichte zu erzählen und damit gehört zu werden, reicht nicht aus“, schreiben Tilmann und Power. „Das Sprechen ist erst der Beginn der Aufarbeitung und muss Konsequenzen haben. Es ist verbunden mit vielen Erwartungen. Zu diesen Erwartungen gehört, dass die mitgeteilten Erfahrungen in Gesellschaft und Politik ankommen. Dass sie Wirkung zeigen und Veränderung anstoßen.“ Wenn ich meinen Text in zehn Jahren lese, dann denke ich hoffentlich: Ja, so ist das früher gewesen. Im Zug haben die Fußballfans gesungen: Der Vater fickt die Tochter, die Mutter, die schaut zu.


Quellenhinweis:
Brigitte Tilmann, Kathrin Power: „Ich dachte, ich bin die Einzige“ (S. 67-71), in: Sabine Andresen, Daniel Deckers, Kirsti Kriegel (Hg.): „DAS SCHWEIGEN BEENDEN. Beiträge zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“

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