Remember me – (don’t) forget my fate!
Marie Sophie Richter, Sängerin, stART.up-Alumna
Im Mai 2023 kam die Leitung des Hamburger Benefizorchesters Nova Consonanza auf mich zu und fragte mich als Sängerin für zwei Benefizkonzerte an. Ich konnte mich schnell für das Konzept des mir bis dahin unbekannten Orchesters begeistern, das sein musikalisches Können dem gesellschaftlichen Engagement widmet. Mitglieder des Kammerorchesters sind „langjährige Freunde und neue Bekannte, Jüngere und Ältere, ehemalige Kollegen aus den großen Hamburger Orchestern, Studierende und ambitionierte Amateure“ – so ihre Selbstbeschreibung. Sie alle arbeiten ohne Gage und spielen mehrere Benefizkonzerte im Jahr, deren Erlöse in unterschiedliche Spendenzwecke fließen.
Ich wurde angefragt für zwei Konzerte im Johanneum und in der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, bei denen Spenden für die Hamburger Tafel und die Flüchtlingshilfe Harvestehude gesammelt wurden. Das Programm bestand aus S. Scheidts Paduan Dolorosa, der Arie Dido’s Lament aus Purcells Oper Dido and Aeneas und einer Kammerfassung der 4. Sinfonie von Gustav Mahler. Der letzte Satz dieser Sinfonie ist eine Vertonung des Gedichts „Das himmlische Leben“ aus der Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn.
Nun bietet sich eine Gelegenheit, Mahlers Lieder mit Orchester aufzuführen, nicht allzu oft, und Didos Arie liegt mir sehr am Herzen – schon seit dem Studium, wo ich erstmals in Kontakt mit diesem so simplen, aber doch so berührenden Stück kam.
Allein aus künstlerischer Sicht fand ich die Anfrage also reizvoll. Die Gelegenheit, die sich mir hier bot, mit meiner Arbeit gerade in dieser unsicheren Zeit Unterstützung für Menschen einzuwerben, die sie am dringendsten benötigen, war für meine Zusage noch viel schwerwiegender.
Da ich darum weiß, wie sehr diese Art von Projekten von der finanziellen Unterstützung lebt, die sie in der Lage ist einzuwerben, bot ich direkt meine Mithilfe bei der Suche nach weiteren Förderern für die Konzerte an. Auch ein Benefizorchester, welches keine Abendgage nimmt, muss die Mittel für Probenraummieten, Fahrten, Transportkosten, Noten- und Instrumentenleihe aufbringen. Also bewarb ich mich beim Programm „Mach den Unterschied!“ der Claussen-Simon-Stiftung und erhielt zu meiner großen Freude eine Zusage zur Förderung der Konzerte. Mit „Mach den Unterschied!“ fördert die Claussen-Simon-Stiftung ehrenamtliches Engagement ihrer Stipendiat:innen und Alumni:ae, die sich unter anderem für Möglichkeiten zur Teilhabe aller Menschen an unserer demokratischen Gesellschaft engagieren.
Die beiden Initiativen, welche die eingeworbenen Spenden erhalten haben, tun genau das: Die Flüchtlingshilfe Harvestehude leistet im Hamburger Stadtteil Harvestehude wichtige Arbeit, um Geflüchtete bei uns in Hamburg zu integrieren. Angesichts des anhaltenden Kriegs in der Ukraine und der weiterhin wachsenden Zahl an Geflüchteten aus anderen Ländern ist die Arbeit dieses Vereins besonders relevant, auch deshalb, weil die Flüchtlingshilfe einen wichtigen Beitrag leisten kann, um dem zunehmenden Rassismus in unserer Gesellschaft die Stirn zu bieten.
Der zweite Benefizpartner, die Hamburger Tafel, braucht mehr Unterstützung denn je, da die Zahl der Bedürftigen in der derzeitig wirtschaftlich unübersichtlichen Lage wächst und die Spenden diesen Bedarf längst nicht mehr ausgleichen können. Die Tafel beugt durch ihre Tätigkeit gleichzeitig Lebensmittelverschwendung vor und trägt dadurch zu mehr Nachhaltigkeit bei.
Die Hamburger Tafel und die Flüchtlingshilfe Harvestehude beziehen mit ihrem Engagement jene Menschen ein, welche im klassischen Konzert so oft vergessen werden, das ja leider hauptsächlich in privilegierten Kontexten stattfindet. Durch die Benefizkonzerte kann dies zwar nicht geändert werden. Doch können solche Konzerte auch für die marginalisierten Menschen in unserer Gesellschaft einen Mehrwert eben durch jene Musik schaffen, indem Mittel für zwei Organisationen gesammelt wurden, die konkret die Lebenswirklichkeit von von Armut und Flucht betroffenen Menschen zu verbessern helfen. Wir Musiker:innen haben durch die öffentliche Plattform, die uns unser Beruf bietet, und durch unsere Rolle als Mitglieder des privilegierten Teils der Gesellschaft die Verantwortung, auch unser Publikum darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, sich für diese Themen zu engagieren und so gemeinsam für eine demokratische und gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Die beiden von der Claussen-Simon-Stiftung unterstützten Konzerte am 23. und 24. September 2023 waren gut besucht und konnten viele Menschen für die Anliegen der Flüchtlingshilfe und der Tafel gewinnen.
Für mich als Musikerin zeichnen sich Benefizkonzerte durch eine besondere, vereinende Stimmung aus. Alle im Saal haben sich zwar zum einen versammelt, um Musik zu erleben und zu erzeugen, doch sind sie auch gekommen, um über das Ereignis der Musik hinaus etwas zu schaffen. So schlägt Kunst zu jeder Zeit entgegen aller Zweifel, ob sie wirklich relevant und zeitgemäß für die Gesellschaft sein kann, durch die vor Jahrhunderten in Ton und Wort gegossenen Gefühle eine Brücke ins Hier und Jetzt. Es war eindrucksvoll zu spüren, wie sehr der Kontext, in dem wir die Musik erleben, eine Botschaft erzeugt und uns auch in diesen Konzerten für ein gemeinsames Ziel verbunden hat. Die Worte, die ich in dieser Atmosphäre singe, bekommen dann eine tiefere Bedeutung: So fleht uns Dido in ihrer Arie im Sterben an, dass wir sie als Mensch erinnern, aber ihr Schicksal vergessen sollen.
Es ist ein Wunsch, der im Angesicht von Armut, Flucht und Vertreibung zum Nachdenken anregt. Vielleicht müssen wir lernen, wie wir die Lebensrealitäten unserer Mitmenschen anerkennen und beeinflussen können, ohne sie gleichzeitig jemals auf diese zu reduzieren.
So begleiten uns Didos eindringliche Worte aus dem Konzertsaal hinaus bis in unseren Alltag: „Remember me!“
Weitere Konzerte des Benefizorchesters: www.novaconsonanza.de
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