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#Coronazeit #Kultur #Transdisziplinarität #waszählt!

Produktiv im Shutdown: Ein außergewöhnliches Konzertprojekt mit Geige und Webstuhl und Reflexionen über Kunst und gesellschaftliche Verantwortung

Nicole Kiersz, Textildesignerin, stART.up-Alumna

Viel und gleichzeitig wenig – ist passiert in den letzten Monaten. Für uns alle ist die physische Distanz, die wir ab März gehalten haben, sicherlich ein neuer Zustand gewesen. Warum ich mir dabei so sicher bin, dass es neu ist? Meine Oma teilte mir am Telefon mit, dass sie Vieles erlebt habe in ihrem Leben und in der damaligen Volksrepublik Polen – aber so etwas wie jetzt noch nie. Ich glaube ihr, und ich glaube, dass wir in diesen fragilen Zeiten das erste Mal seit langer Zeit uns noch bewusster werden konnten, dass wir viele alte und neue Herausforderungen anzunehmen haben, sich Veränderungen ankündigen und dabei auch Chancen erwachsen und diese hoffentlich ergriffen werden.

Die Zeit in der physischen Distanz und dem Shutdown ist auch für mich nicht immer leicht. Ein Theaterstück, welches im Mai auf Kampnagel hätte aufgeführt werden sollen, wurde von einem Moment auf den anderen abgebrochen und glücklicherweise verschoben. Die Hoffnung und Perspektive des Wiederanknüpfens und der Finalisierung des Stücks in einem späteren Moment und die Telefonate in Momenten der Einsamkeit, Verwirrung und Ungläubigkeit mit mir nahestehenden Menschen stimmten mich insgesamt jedoch zuversichtlich.

Wider Erwarten waren die sechs Wochen Shutdown eine produktive Zeit, und ich habe viel am Rechner gearbeitet und es auch gern getan. Zum einen habe ich am Projektantrag mitgedacht für das erste Projekt des Designerinnen-Duos Schirm & Strauch, welches von Linda Schirmel und mir gegründet wird. Wir planen den Beginn unserer Zusammenarbeit für den Sommer 2020 und freuen uns auf eine geplante Ausstellung im Frühjahr 2021. So viel sei erstmal verraten.

Parallel dazu ergab sich eine geförderte Recherche Weaving Concerts mit praktischen Anteilen (https://vimeo.com/annaneubert) für ein größeres Projekt gemeinsam mit der Geigerin und Musikerin Anna Neubert, ebenfalls stART.up-Geförderte. Wir legten den ersten Grundstein unserer Zusammenarbeit für eine Musikperformance während einer gemeinsamen Künstlerresidenz in Portugal letztes Jahr im September. Der Wahnsinn des beruflichen Alltags und bereits laufender Projekte hatte unser Vorhaben etwas in den Hintergrund rücken lassen. Den angeordneten und auch schmerzhaften Winterschlaf der Kulturbranche im Frühjahr nutzen wir für uns, um an die bereits formulierten Fragen anzuknüpfen, die Recherche an die aktuelle Situation anzupassen und um neue Ideen zu erweitern. Wir formulierten die Kernfragen, mit welchem thematischen Schwerpunkt, in welcher Form und mit welchen Mitteln die Synthese aus Musik und Weberei in einem Performance-Kontext umgesetzt werden kann. Wir erlaubten uns digitale Exkursionen zu anthropologisch, historisch und technologisch verwandten Themen, gepaart mit langen Telefonaten, um unsere Gedanken nicht nur schriftlich und bildlich in einer immer größer werdenden Mind-Map zu teilen.

Uns ist während der Recherche sehr schnell klar geworden, dass es nicht der Moment ist für einen mentalen Stillstand, sondern dass dieser Moment sogar nicht besser sein konnte, an unserem Vorhaben weiter zu denken und zusammen zu reflektieren für die Zeit danach, weil Kultur mit ihren vielfältigen Facetten nun mal auch systemrelevant ist. Der Ertrag dieser noch nicht abgeschlossenen Recherche ist immens, was unser Vorhaben für ein von Künstler:innen umgesetztes Erlebnis für ein Publikum bestärkt. Ermöglicht wird diese Recherche Dank der finanziellen Förderung durch den Hilfsfonds Was zählt! der Claussen-Simon-Stiftung.

Was in dieser Zeit nicht zu kurz kam, war die Reflexion und Neusortierung der Gedanken über meine Aufgabe und Verantwortung als Künstlerin und Designerin in einer Welt voller kritischer Baustellen, die alle noch die Chance haben, ins Gute oder Bessere umgewandelt zu werden. Es ist noch nicht ganz zu spät, und jede:r von uns kann im eigenen Wirkungskreis etwas bewegen. Ich muss auf die aktuellsten Ereignisse in den USA Bezug nehmen, darüber nicht zu sprechen oder zumindest in die eigene Reflektion zu gehen als Weiße und Künstlerin, ist falsch. Zum einen ist es jetzt höchste Zeit, sich mit der eigenen Beziehung zum Thema Rassismus (noch) tiefer zu beschäftigen und aus der weißen Komfortzone herauszutreten. Das Thema geht uns alle etwas an.

Ich empfehle hierfür das sehr zugängliche und interaktive Werk Exit Racism von Tupoka Ogette. Das bedeutet auch, mein berufliches Schaffen mit dem Textil als Medium regelmäßig auf kulturelle Aneignung zu überprüfen und zu lesen – eine Praxis (von vielen), die ich im Kampf gegen Rassismus und leider nicht aufhörende kulturelle Ausbeutung allen ans Herz legen möchte.

Ein weiteren Gedanken möchte ich teilen, den ich schon länger mit mir trage und der mir den Schritt in die genormte Arbeit als Designerin in größeren Unternehmen der Textilindustrie schwer macht: das Bewusstsein über die vielen sozial unfairen und fahrlässigen Entscheidungen mit dramatischen sozio-ökologischen Folgen - angetrieben durch Profitmaximierung und Unersättlichkeit. Neo-Kolonialismus beschreibt diesen Zustand in meinem Verständnis treffend; einen Zustand, den ich mir anders wünsche. Daran mit vollem Bewusstsein teilzunehmen, ist für mich keine Option, daran zu arbeiten, dass es auch anders geht, ist meine Wahl. So wie es bereits die Wahl vieler anderer Akteur:innen der Textilbranche ist.

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