Nur das Rotkehlchen reist in diesem Jahr: Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Zugvogel-Förderprogramm und den internationalen Jugendaustausch
Susanne Lea Radt, Programmleitung Zugvogel
Ich sitze in unserem kleinen Garten. An einem Mittwoch um 11 Uhr, den Laptop aufgeklappt, zwischen Videokonferenz, klingelndem Telefon und Excel-Tabelle. An der Wäscheleine trocknen Mund-Nasen-Schutzmasken in der Sonne. Im winzigen Teich planscht ein Rotkehlchen. Ein Vogel, den es im Herbst oft in südlichere Gefilde zieht. Täglich erinnert mich dieses kleine Wesen an all die Jugendlichen, die eigentlich in diesem Jahr mit dem Zugvogel-Förderprogramm ins Ausland reisen sollten. Die Claussen-Simon-Stiftung schreibt es jährlich in Kooperation mit der Behörde für Schule und Berufsbildung und Experiment e.V. aus.
Noch bis kurz vor dem Lockdown hatten wir im Bildungsbereich der Claussen-Simon-Stiftung auf Hochtouren an der Vorbereitung des Auswahlverfahrens gearbeitet. Knapp 130 Hamburger Schüler/-innen von Stadtteilschulen hatten davon geträumt, in diesem Herbst für vier bis sechs Wochen bei Gastfamilien in Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, Irland oder auf Malta zu verbringen und dort die Schule zu besuchen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, neue Freundschaften zu knüpfen, in andere Lebenswelten einzutauchen – also ein richtiges eigenes Abenteuer zu erleben. Ihre Bewerbungen stapelten sich auf unseren Schreibtischen, und das Lesen weckte auch bei uns im Team die Vorfreude auf die kommende Zeit. Vorfreude auf das Kennenlernen der Bewerber/-innen, das Vorbereitungsseminar, die Zusendung der Gastfamilienunterlagen, das Mitfiebern bis zur Abreise. Auf die Postkarten, Mails und Instagram-Grüße aus dem Ausland, das Wiedersehen beim Nachbereitungsseminar. Auf die an den Erfahrungen gereiften und gewachsenen Jugendlichen, die in der Begegnung mit dem Neuen und Fremden auch sich selbst ein Stück weit besser kennenlernen würden. Die neben erweiterten Sprachkenntnissen auch ein Verständnis für andere Lebensweisen erlangt hätten und vielleicht sogar von weiteren Auslandsprojekten träumen würden. Aus den Bewerbungen sprachen ganz greifbar das Reisefieber, die Aufbruchsstimmung und die Neugierde der jungen Menschen.
Und dann kam der 12. März. Obwohl schon seit einiger Zeit bekannt war, dass sich das „neuartige Corona-Virus“ in Europa ausbreitete, traf mich die Nachricht, dass es nun mit aller Wucht bei uns angekommen war und wir bis auf Weiteres alle Veranstaltungen absagen mussten, sehr. Schnell wurde deutlich, dass in diesem Jahr keine Zugvögel zu ihren Abenteuern aufbrechen können würden. Nur kurze Zeit, nachdem ich schweren Herzens die Mail mit der schlechten Nachricht an alle Bewerber/-innen gesendet hatte, wütete in vielen der Zugvogel-Gastländer das Virus besonders stark und löste einen bis dahin unvorstellbaren Ausnahmezustand in Europa und auf der ganzen Welt aus.
Nicht nur das Zugvogel-Programm kann in diesem Jahr keine Schüler/-innen ins Ausland entsenden. Die Corona-Krise trifft den Sektor der gemeinnützigen Schüler- und Jugendaustauschorganisationen in ganz Deutschland und weltweit schwer. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gefährdet die durch Covid-19 entfachte Krise damit all jene Organisationen, die seither maßgeblich daran beteiligt waren, Verständigung über Grenzen hinweg zu fördern und insbesondere junge Menschen zu Weltbürgern/-innen zu machen, um einen Beitrag zu Demokratie, Toleranz, Akzeptanz, Vielfalt und Frieden in Europa und weltweit zu leisten. Auch unsere Partnerorganisation Experiment e.V., die seit knapp 90 Jahren internationale Austauschprogramme organisiert, hat große Einbußen zu verzeichnen. Der Verein musste neben Zugvogel zahlreiche, bereits geplante Austauschprogramme absagen und viele Jugendliche aus dem Ausland zurückholen. Auch für die zweite Jahreshälfte ist die Lage noch ungewiss.
Gerade in Zeiten wie diesen wird uns die Bedeutung von Reisefreiheit, inter- und transkulturellem Austausch, offenen Grenzen und persönlichen Begegnungen mit anderen Menschen in besonderer Weise klar. Durch die momentanen Einschränkungen wird uns verstärkt bewusst, dass diese Möglichkeiten nicht selbstverständlich sind und einen hohen Wert in sich tragen. Um langfristig interkulturelle Verständigung, Demokratie und zivilgesellschaftliches Engagement in Europa und weltweit zu stärken, wird der inter- und transnationale Bildungsaustausch nach der Überwindung der Corona-Krise noch an Bedeutung gewinnen.
Das Rotkehlchen wird in diesem Herbst, wie in jedem Jahr, in wärmere Gefilde aufbrechen können. Es schürt in mir die Hoffnung, dass möglichst viele gemeinnützige Organisationen diese Krise überstehen und schon bald wieder junge Menschen mit Zugvogel und anderen Programmen in die Welt reisen können, um durch das Eintauchen in andere Lebensweisen diese und sich selbst besser kennenzulernen.
Für Informationen und Gespräche danke ich herzlich Bettina Wiedmann (Geschäftsführerin) und Anna Hosters (Teamleitung Kurzzeitprogramme) von Experiment e.V.
Hier geben Experiment e.V. und einige ihrer Austauschschüler/-innen Einblicke in die aktuelle Situation.
Hier finden Sie einen Spendenaufruf, um den Verein während der Corona-Krise zu unterstützen.
Hier finden Sie laufend aktualisierte Meldungen zur Corona-Krise aus der internationalen Jugendarbeit der Fachstelle für internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V. (IJAB).
Hier finden Sie ein Statement zur Corona-Krise des Arbeitskreises gemeinnütziger Jugendaustausch (AJA).
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