Loss of Signal – ein Bericht vom (Raum-)Schiff
Maria Huber, Jakob Boeckh und Ole Hübner
Nach ersten gemeinsamen Projekten während unseres Studiums am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft entwickeln wir – Maria Huber, Jakob Boeckh und Ole Hübner – seit 2020 unter dem Namen the paranormal φeer group Arbeiten, die sich zwischen neuem Musiktheater, partizipativer Performance und Raum-/Lichtinstallation bewegen. Ein wichtiger Ansatz für uns ist es, die Räume, für die und mit denen wir arbeiten, zu eigenständigen “Co-Akteuren” zu machen. Dazu füllen wir sie mit unseren Materialien und Aktionen, denken und bauen sie weiter, und machen sie für unser Publikum als immersive Freiräume des multisensuellen Entdeckens, Staunens und Interagierens erfahrbar. “Räume” – das können in diesem Sinne auch Topographien virtueller Orte und Spuren sein: Während des Lockdowns Anfang 2021 etwa entwickelten wir für das digitale Programm der Volksbühne Berlin sowie die digitale Bühne des HAU Hebbel am Ufer im Rahmen des Performing Arts Festivals Berlin die interaktive Online-Installation Befriending Ghosts. Hier begab sich das Publikum am Computer zuhause auf eine interaktive Geisterjagd über verschiedene, teils eigens angelegte und auf komplexen Pfaden miteinander verlinkte Internetseiten und -plattformen. Zugleich ist es uns ein zentrales Anliegen, ein diverses, junges, weniger erfahrenes Publikum zu erreichen, ihm neue, aufregende ästhetische Erfahrungen zu bieten, ins Gespräch zu kommen und Begeisterung für experimentelle, immersive Kunstformate zu wecken.
Mit der Arbeit Loss of Signal (of course I still love you), die u.a. von der Claussen-Simon-Stiftung gefördert wurde, konnten wir Ende August 2021 einen besonderen Raum bespielen: den Laderaum 4 der MS Stubnitz. Das ehemalige Kühlschiff der DDR-Fischereiflotte liegt seit 2014 als Kulturveranstaltungsort in der Hamburger HafenCity. Für unser Vorhaben war dieser Ort ideal, denn in Loss of Signal geht es um den Alltag einer Astronautin in ihrem Raumschiff, das jeglichen Kontakt zur Erde oder zu anderen Raumstationen verloren hat und deshalb ziel- und hoffnungslos verloren durch das Weltall fliegt. Mit an Bord ist ein Bordcomputer mit viel Redebedarf und einigen merkwürdigen Defekten, der die traurige Astronautin auch schon einmal mit einem kleinen Lied aufzuheitern versucht. Der Maschinenraum hat zudem über die Jahre ein bizarres Eigenleben entwickelt und scheint mehr nach musikalischen als nach technisch-funktionalen Maßstäben zu arbeiten. Alles in diesem Raumschiff klingt: der Bordcomputer und der Maschinenraum – hierfür hat der Schlagzeuger und Klangerfinder Miguel Ángel García Martín eine ganze Batterie von Alltagsgegenständen, selbstgebauten Instrumenten, kleinen Geräten und Maschinen zusammengestellt – sowie die Astronautin A01, die ihre Aktivitäten mit Hilfe eines umgehängten Kassettenrekorders protokolliert, um sich selbst nicht zu vergessen und etwas (für andere) festzuhalten. Eine Radiostation an Bord feuert weiterhin spacige Songs ins Universum hinaus und mit einer piepsenden Antenne, die aus einer Wohnzimmerkommode ragt, versucht A01 verzweifelt, den Kontakt zu Ground Control Houston doch noch irgendwie wiederherzustellen. Das manuelle Navigationssystem ist in Wirklichkeit eine mit einem Energiewandler verbundene Metallplatte, die durch das Abtasten mit einem Kontaktmikrofon akustische Feedbackschleifen erzeugt. Und Lydia Schmidl, Alumna des Förderprogramms stART.up der Claussen-Simon-Stiftung, entlockt ihrem Akkordeon bedrohlich wabernde Klänge, die das unendlich weite, dunkle Weltall rund um das verlorene Raumschiff vor Ohren erscheinen lassen. Die vielen im Raum verteilten hängenden Autofedern, Obertontriangeln, die einen besonderen Science-Fiction- und Synthesizer-artigen Klang von sich geben, Kassettenrekorder, Tastaturen und alle weiteren klingenden Konstruktionen laden am Ende das Publikum dazu ein, selbst das Raumschiff zu erkunden.
Die große Bereitschaft zum Mitmusizieren in unseren fünf öffentlichen Vorstellungen war außerordentlich erfreulich. Mit Begeisterung und Engagement waren insbesondere Schüler:innen der 10. Klasse der Katholischen Schule Altona mit dabei: Im Rahmen einer Kooperation mit dem Hamburger Vermittlungsprojekt Kulturforum 21 besuchten sie sowohl eine Hauptprobe als auch zwei exklusive Schulvorstellungen. Bereits im Vorfeld erhielten die Jugendlichen eine Einführung in die thematischen, räumlichen und ästhetischen Besonderheiten des Projekts und konnten Fragen stellen. Im Nachgespräch gab es für die Schüler:innen, Lehrkräfte und allen Mitwirkenden dann die Möglichkeit, das Wahrgenommene in Worte zu fassen, Eindrücke zu diskutieren und Unklarheiten zu benennen. Für die neuartigen Klänge wurden dabei erstaunlich präzise und bildhafte Beschreibungen, Parallelen und Vergleiche gefunden. Und auch die Frage, warum in dem Stück keine kohärente “Geschichte” erzählt wurde, wie etwa in Filmen oder Musicals, konnte ausführlich besprochen werden. Auf diese Weise wurde deutlich, dass offener Austausch und eine artikulierte Vielfalt individueller Perspektiven essentielle Werkzeuge zum Verständnis ungewohnter Kunstformen darstellen. Das Sprechen über Musik und Klänge ist mitunter gar nicht so einfach und erfordert neue Worte. Die Publikumsbegegnungen und -rückmeldungen zeigten, dass mit dem Stück Loss of Signal ein transdisziplinäres Erlebnis kreiert werden konnte, das für Besucher:innen aller Altersgruppen – mit oder ohne künstlerische Vorkenntnisse – spannende, eindrückliche und überraschende Momente bereithielt.
the paranormal φeer group ist für uns eine Möglichkeit, in unserem dreiköpfigen Kernteam sowie gemeinsam mit anderen Künstler:innen, die und deren Arbeit wir schätzen, künstlerische Ideen zu verwirklichen, die in anderen Kontexten so nur schwer eine Chance hätten. Loss of Signal entzieht sich einer Genrezuschreibung und die Entstehungsweise ist eine konsequent kollaborative: Alle Beteiligten trugen im Sinne einer Co-Autor:innenschaft aktiv dazu bei, dass die vielen Elemente aus Klang, Performanz, Text, Licht etc. so gut ineinandergriffen, sich verzahnten, miteinander spielten und sich – so hoffen wir – “magische” Synergien ergaben. Ein großer Teil der Musik entstand beim gemeinsamen Ausprobieren, Improvisieren, Experimentieren und Diskutieren, wie auch sich die Texte im Pingpong mit der Performerin Amélie Haller, in Blitz-Schreibsessions, Probetagebüchern, Kassettenprotokollen unserer eigenen Tagesabläufe etc. entwickelten. Die Einladung an das Publikum, eigene dramaturgische und klangliche Entscheidungen für die individuelle Aufführung zu treffen, auf spielerische Weise im theatralen Raum aufzugehen, ist da nur ein weiterer konsequenter Schritt. Auf diese selbstbestimmte Weise arbeiten zu können, bedeutet für uns eine unglaublich wichtige Freiheit, und wir sind allen Förderern und Partnern, die Loss of Signal (of course I still love you) ermöglicht haben, zu großem Dank verpflichtet: dem Fonds Darstellende Künste, der Claussen-Simon-Stiftung, der Probebühne im Gängeviertel, dem Next Level Festival for Games, das uns zu einem Gastspiel im November 2021 in der Zeche Zollverein Essen eingeladen hat, der Crew der MS Stubnitz und allen, die das Projekt von seinen allerersten Konzeptskizzen im Frühjahr 2017 über viele Änderungen hinweg bis zur tatsächlichen Umsetzung unterstützt haben.
Foto: Tillmann Engel
Artikel kommentieren
Kommentare sind nach einer redaktionellen Prüfung öffentlich sichtbar.