Kultur für alle – zu welchem Preis?
Emily Nass, Stipendiatin bei Master Plus
Kulturelle Teilhabe und kultureller Austausch – lange, bevor ich mich wissenschaftlich mit diesen Themen auseinandergesetzt habe, waren sie bereits Teil meines Alltags. Ich bin zweisprachig und multikulturell aufgewachsen und habe dadurch bereits als Kind gemerkt, dass Kulturveranstaltungen und -organisationen Brücken schlagen und soziale Grenzen auflösen können. Es gibt keinen Zeitpunkt meines Lebens, an dem ich mich nicht dafür interessiert habe, mehr über „Kultur“ herauszufinden.
Momentan studiere ich im Master „Kultur und Gesellschaft“ mit den Fächern Management und Medienwissenschaften und möchte mich auch in meinem Beruf dafür einsetzen, dass wissenschaftliche Disziplinen vermehrt in den Dialog treten. Denn ob nun „multilingual“, „multikulturell“ oder „multidisziplinär“, ein Zusammenleben ohne „multi“ kann ich mir nicht vorstellen. Im Rahmen des Stipendiat:innentreffens 2022 der Claussen-Simon-Stiftung durfte ich einen Workshop zum Thema „Kultur für alle – zu welchem Preis?“ halten.
Jede und jeder von uns ist Teil einer Kultur. Je nachdem, wie man den Begriff definiert, sind wir sogar vielen kleinen Kulturen gleichzeitig zugehörig: Fankulturen, Arbeitskulturen, Freizeitkulturen – die Liste ist lang. So trivial das klingen mag, war es tatsächlich eine lange Zeit nicht selbstverständlich, an Kultur „teilzuhaben“ oder sie sogar mitgestalten zu dürfen. Noch im 18. Jahrhundert, in Zeiten der Aufklärung, galt eine Kultur als eine erstrebenswerte Lebensweise, auf die ein bestimmtes gesellschaftliches Kollektiv Universalanspruch erhob. Wer ihre Sitten und Normvorstellungen nicht teilte, galt nicht als „kultiviert“. Damit war dem Kulturbegriff selbst bereits eine Hürde immanent. Das Kulturverständnis entwickelte sich über die Jahrhunderte weiter und verlor zunehmend seine normative Komponente. Kultur meint heute nicht mehr ausschließlich „Hochkultur“, und Wertungen über „gute“ oder „schlechte“, „intellektuelle“ oder „primitive“ Kulturen werden obsolet. Der Kulturbegriff, mit dem ich zumeist arbeite, ist der des Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz: der „bedeutungsorientierte Kulturbegriff“. Er erklärt, dass, ausgehend vom Sozialkonstruktivismus, jede und jeder danach strebt, der Welt um sich herum Bedeutung zu verleihen, um sie interpretieren zu können. Aus den einzelnen Weltinterpretationen entstehen symbolische Ordnungen, die sich abhängig von Zeit und Ort reproduzieren oder verändern und sich zu „Kulturen“ zusammenfügen. Kulturen sind also kontingent. Gleichzeitig gibt es nach dieser Definition keinen Raum mehr „außerhalb“ von Kultur.
Wenn wir im gesellschaftlichen Kanon von Kulturökonomie und Kulturpolitik sprechen, dann beziehen wir uns dabei meist auf ein engeres Kulturverständnis. In Deutschland gelten Kunst und Kultur als „meritorische Güter“ . Sie werden staatlich gefördert, da ihnen wohlstandsverbessernde Funktionen zugeschrieben werden. In den 1970er Jahren führten starke Demokratisierungstendenzen dazu, dass sich das Kulturangebot im Land stark vervielfältigte, erweiterte und pluralisierte. Die Mottos „Kultur für Alle“ und „Kultur von Allen“ spiegeln sich bis heute in der Politik wider. Öffentliche Kultureinrichtungen tragen die Verantwortung, im Zuge ihres kulturpolitischen Auftrags vielfältige Kulturangebote zu schaffen, die allen Gesellschaftsmitgliedern die Teilhabe am kollektiven kulturellen Leben ermöglichen. Gleichzeitig sind Kulturbetriebe ökonomische Akteure, die neben politischen auch wirtschaftliche Interessen verfolgen. Möglichkeiten, diese beiden Ziele miteinander zu verbinden, liegen unter anderem in der Preisgestaltung. Gleichwohl gestaltet sich die Kombination aus sozial und ökonomisch orientierten Leitlinien oft als herausfordernd. Kulturbetrieben gelingt es nicht immer, die passenden Maßnahmen zu ergreifen, um Hemmnisse und Hürden für ihre Besucher:innen gänzlich abzubauen und dabei ökonomisch stabil bzw. nachhaltig zu bleiben. Da nicht jeder Mensch über das ökonomische, soziale oder kulturelle Kapital verfügt, um am kulturellen Leben teilzunehmen, besteht die Gefahr, dass Einzelne bzw. ganze Teile der Bevölkerung in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert werden. Gefühle der Überforderung, eingeschränkte Mobilität, aber auch die Angst vor unbekannten Situationen und Mitbesucher:innen oder Sprachbarrieren können Menschen daran hindern, Kulturangebote wahrzunehmen.
Das wissenschaftliche Forschungsprojekt „kulturPreis – Steigerung der kulturellen Teilhabe mittels innovativer und ökonomisch nachhaltiger Preiskonzepte“ beschäftigte sich mit dieser Thematik und untersuchte die Wirkung alternativer Preiskonzepte auf kulturelle Teilhabe. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und an der Universität Paderborn sowie der Technischen Universität Berlin durchgeführt. Ich hatte die Möglichkeit, das Projekt über ein Jahr lang als studentische Hilfskraft an der Universität Paderborn zu begleiten und so eigenständig mitzuerleben, wie soziale und ökonomische Nachhaltigkeit gestaltet werden können, indem mehrere wissenschaftliche Disziplinen transdisziplinär interagieren und gemeinsame Lösungen erarbeiten. Mich hat es dazu inspiriert, die Thematik der kulturellen Teilhabe auch über meine Arbeit hinaus mit meinen Mitmenschen zu diskutieren und für die Hemmnisse zu sensibilisieren, an deren Abbau sich jede und jeder von uns beteiligen kann. Über den gemeinsamen Austausch, ob nun im privaten oder wissenschaftlichen Kontext, bewahren wir eine gegenseitige Offenheit für die Bedürfnisse anderer und können so soziale Nachhaltigkeit leben. Wenn man mich also fragt, „Was zählt?“, ist meine Antwort: „Kultur. Für alle.“
Weitere Informationen zum Projekt kulturPreis finden sich hier.
Literaturempfehlung: Ingrid Gottschalk (2016), Kulturökonomik: Probleme, Fragstellungen und Antworten. 2. Auflage, Wiesbaden: Springer.
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