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#Auslandsaufenthalt #Kultur

Handspinnen im 21. Jahrhundert: Warum es sich lohnt, alte Techniken zu bewahren

Nicole Kiersz, Textildesignerin und stART.up-Alumna

Wenn wir an das Spinnen mit der Handspindel denken, kommen uns oft Märchen wie Dornröschen, mittelalterliche Szenen und Fotografien mit alten Bäuerinnen in den Sinn. Die Technik des Handspinnens erscheint vielen als rückständig und veraltet, etwas für Romantiker:innen oder für die, die bereit sind, sich auf eine langwierige und geduldige Arbeit einzulassen. Doch hinter dieser uralten Handwerkskunst verbirgt sich viel mehr, wie schon die norwegisch-schwedische Künstlerin Hannah Ryggen (1894–1970) mit ihren aufwendigen Tapisserien beweisen konnte.

Das Handspinnen ist eine der ältesten textilen Techniken der Menschheit. Die Handspindel ermöglichte es unseren Vorfahr:innen, textile Kulturen zu etablieren und Kleidung sowie andere wichtige Alltagstextilien herzustellen. Bevor das Spinnrad nach Europa kam, vermutlich im 13. Jahrhundert aus China, war die Handspindel das Hauptwerkzeug zur Garnproduktion. Wichtig anzumerken ist, dass diese Zeit nicht ohne Kinderarbeit einher ging, ein Problem, das bis heute in der Textilindustrie, besonders im Fast-Fashion-Bereich, besteht und hartnäckig bekämpft werden muss, so wie viele weitere Missstände der Branche.

Mit dem Spinnrad und später der industriellen Revolution, die von der Erfindung der Dampfmaschine zur (elektrischen) Energiegewinnung eingeleitet wurde, erfuhr die Textilproduktion kontinuierliche Verbesserungen. Insbesondere die Automatisierung des Spinnens sorgte für enorme Arbeitslosigkeit im europäischen Textilsektor; ein Prozess, der sich bis in die 1990er Jahre hinzog. Heutzutage können Industriemaschinen eine beeindruckende Menge Garn von gleichbleibender Qualität produzieren. Warum also sollte man heute noch mit der Handspindel arbeiten?

Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, ein Kleidungsstück von Grund auf selbst herzustellen – vom Schaf bis zum fertigen Produkt. Dies ist nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit, die im Kontext des Klimawandels als eine Lösung für bewussteren Konsum immer interessanter und in vielen Designprodukten bereits angewendet wird. Diese Herangehensweise erlaubt uns, den mühsamen Prozess, den unsere Vorfahren durchliefen, nachzuvollziehen und zu schätzen. Früher gingen unsere Großeltern nicht einfach in ein Geschäft der Größenordnung von H&M, um Kleidung zu kaufen. Jeder Schritt, vom Spinnen des Garns über das Weben des Stoffes bis hin zur Fertigung der Kleidung, war arbeitsintensiv, zeitaufwendig und eine Notwendigkeit.

In der heutigen Gesellschaft haben viele Menschen den Bezug zu diesen Prozessen verloren, mit denen unsere alltäglichen Textilien entstehen. Dies ist keine Kritik, sondern eine Feststellung und womöglich Symptom unserer schnelllebigen und immer mehr digitalisierten, arbeitsteilig organisierten Realität. Als Textildesignerin sehe ich es als eine meiner Aufgaben an, diese alten Techniken wieder in den Alltag zu integrieren – sei es durch das notorische öffentliche Spinnen mit der Handspindel an Bushaltestellen oder durch das Anbieten von Workshops für Anfänger:innen oder Berufskolleg:innen. Mir persönlich kommt es darauf an, dem Spinnen Leichtigkeit zu verleihen und dem verstaubten Image entgegenzuwirken. Sehr überraschend war es für mich, während meines Aufenthalts in Indien im Winter 2023/24 festzustellen, dass diese traditionelle Technik auch dort weitgehend aus dem Alltag verschwunden ist. Nicht nur, dass ich den Eindruck hatte, dass es aus dem Alltag verschwindet; ich hatte auch das Gefühl, dass das Bild einer weißen Frau mit Handspindel nicht in den ländlichen Raum von Karnataka passt. Es war erstaunlich schwierig, eine traditionelle indische Handspindel, auch takhli genannt, zu finden. Nach meiner Online-Recherche im Nachtzug zwischen Hampi und Mysore gelang es mir schließlich, Kontakt zum Künstler K J Sachidananda aufzunehmen, der das Spinnen mit einer Charkha (Spinnrad) am Leben erhält und generationsübergreifend diese Technik lehrt. Unser Treffen führte zu intensiven Gesprächen und auch zur Bestätigung, dass das handwerkliche Herstellen eines Garns auch in Indien immer mehr in Vergessenheit gerät, obwohl Indiens Unabhängigkeitsbewegung von der britischen Kolonie mit dieser Praxis aufs engste verwoben ist. Gandhi nutzte die Charkha (Spinnrad) als Symbol des Widerstands gegen die britische Kolonialherrschaft, um Selbstversorgung und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu fördern. Er glaubte, dass das Spinnen von Khadi (handgesponnener und handgewebter Baumwolle) die indische Wirtschaft stärken, soziale Gleichheit fördern und gewaltlosen Widerstand verkörpern würde. Zum Abschied gaben K J Sachidananda und ich uns das Versprechen, uns eines Tages wiederzusehen, und wir tauschten unsere Handspindeln: Sachu bekam meine 3D-gedruckte Spindel und ich eine traditionelle takhli, eine Spindel zum Spinnen kurzer Baumwollfasern. Und hier möchte ich erwähnen, dass das Spinnen von Baumwollfasern mit der Hand besondere Handfertigkeiten und Koordination erfordert, was selbst für mich als geübte Person noch Übungsstunden bedeutet.
 
Handspinnen in der Öffentlichkeit kann eine performative Qualität haben. Es zieht neugierige Blicke auf sich und regt zum Nachdenken an. Während die Technik einfach erscheint, entfaltet sie eine tiefe, meditative Kraft, wenn man sich auf sie einlässt. Während des Stipendiat:innentreffens 2023 hatten sechs Teilnehmer:innen die Gelegenheit, sich auf das Spinnen mit der Handspindel einzulassen. Innerhalb kürzester Zeit produzierten sie ihren ersten Faden. Der Stolz, die Begeisterung und die Neugier waren spürbar. Fragen tauchten auf: Wie lange dauert es, genug Garn für einen Pullover zu spinnen? Welche Art von Faser sollte für welches Garn und das Garn für was verwendet werden? Die Teilnehmer:innen meines Workshops erlebten, dass das Handspinnen eine komplexe Gestaltungstechnik ist, die viele Überlegungen und Entscheidungen im Vorfeld erfordert. Diese brauchen aber Zeit, und Zeit scheint aktuell etwas zu sein, was effizient genutzt werden will. In einer Welt, die von Technologie und Schnelllebigkeit geprägt ist, bietet das Handspinnen in erster Linie eine Möglichkeit zur Entschleunigung und Selbstbesinnung. Es ermöglicht uns, die Geschichten und Traditionen unserer Vorfahr:innen zu würdigen und gleichzeitig nachhaltige Praktiken in unseren Alltag zu integrieren. Indem wir uns auf das Handspinnen einlassen, können wir die Schönheit des Handgemachten neu entdecken und eine tiefere Verbindung zu den Textilien, die uns umgeben, herstellen.

Das Handspinnen mag altmodisch erscheinen, doch es birgt eine zeitlose Relevanz: Seit Generationen wird mit dem Handspinnen die Verbindung zu traditionellen Handwerkskünsten und kulturellem Erbe bewahrt, während es gleichzeitig nachhaltige Praktiken fördert und eine bewusste Alternative zur industriellen Massenproduktion bietet. Es ermöglicht eine tiefere Wertschätzung für die Herstellung von Textilien, fördert Kreativität und Entschleunigung und unterstützt lokale Wirtschaften und kann unser analoges soziales Miteinander gestalten und inspirieren.

nicole-kiersz.com/

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