#Coronazeit #Kultur #waszählt!
Erzwungene Perspektivwechsel und Träume von Polen im Sommer
Martin Mutschler, Alumnus bei stART.up
Der Blick in den Kalender ist selten geworden. Als ich zum Anlass dieser Notizen hineinschaue, merke ich, dass es genau einen Monat her ist, seit der Probenbetrieb an der Staatsoper Hannover, wo ich seit letztem Sommer Dramaturg bin, eingestellt wurde. Vor einem Monat, es war ein Samstag, wurden wir aus einer Bühnen-/Orchester-Probe förmlich herausgeholt, heraus in eine erste Frühlingssonne, in der wir dann den Crémant des ungefragten Abschieds tranken mit dem Team, das eine Woche vor der Premiere zu Bohuslav Martinůs The Greek Passion stand. Einer Premiere, der ich entgegenfieberte, weil mein Herz für das Stück und seine Menschen brannte. Jetzt brannten mir Winterschläfer die Augen vom grellen Frühlingslicht und von der ein oder anderen trotzigen Träne.
Der Rest des Tages war plötzlich leer, gespenstisch waren auch die folgenden Wochen. Ich lief in den Hüllen meines Alltags umher wie in einer über Nacht leergeräumten Wohnung, und erst allmählich lernte ich die Leere zu nutzen, die Lücken zu füllen. Seit einem Monat erledige ich meine dramaturgische Arbeit nun von zuhause, plane und betreue Online Content für die verschiedenen Kanäle der Staatsoper und schaue weit in die Zukunft: Momentan liegt der Klavierauszug eines Stücks auf meinem Schreibtisch (der kein Schreibtisch ist), das im Juni nächsten Jahres Premiere haben soll. Es ist ein Geschenk, das weit Entfernte nah heranzuholen – aber mir fehlt auch oft die Motivation.
Eine Trägheit packt mich immer wieder, die sich aus zweierlei zu ergeben scheint: aus dem Verlust der aktuellen Herzensprojekte – dass The Greek Passion aufgeschoben ist ins Ungewisse, dass Iva Bittová nicht in meiner Reihe Stimmen (die sich der Kraft des Gesangs aus anderen Genres, Kulturen und Sprachen widmet) auftreten und einen Workshop für Laien aus Hannover anbieten wird. Und aus dem rational nicht aufzulösenden Kontrast, dass ich jetzt eigentlich auf Hochtouren arbeiten würde, ein kleines Gefühls- und Gedankenkraftwerk innerhalb der großen Maschine; ja, dass ich mit 180 Sachen aus der Kurve geflogen bin. Ich bin weich gefallen – ich habe eine schöne Wohnung, die mir die Festanstellung neben allem anderen bezahlt –, aber gefallen bin ich doch. Verdutzt schaue ich in die Welt hinaus (ergo vom Zimmer in den Garten) und warte auf die blauen Flecke des Sturzes. Dann erst schließe ich mich an den täglichen Notstrom an und komme langsam auf Touren.
Vor ein paar Wochen schrieb ich:
Ich versuche, nicht so eigenbrötlerisch zu werden, ich versuche, mich an kleinen Dingen zu freuen, und manchmal merke ich, dass es mir, einfach so, ganz gut geht. Den Kontrast zu 'dem da draußen' finde ich spannend, wenn auch nicht immer produktiv. Als kleine Gespenster mit anwesend im Raum: Begriffe wie Effizienz, Produktivität und Selbstverwirklichungszwang. Was bedeutet Kreativität in der verordneten Isolation? Endlich Zeit, den Roman zu schreiben? Und wenn er gerade jetzt nicht geschrieben werden will? Bin ich dann nur wehleidig? Ich hätte ja Zeit, mich auf meinen Hintern zu setzen.
Diese Frage kann ich auch heute nicht beantworten – jedenfalls nicht, solange ich mich nicht wirklich hinsetze und das geniale Werk in Angriff nehme, das vielleicht in mir schlummert –, ich streife sie nur und gehe dann ohne Antwort zu anderen Fragen über, die mir mehr Freude bereiten, da sie nicht ausschließlich mit mir zu tun haben und mit meiner Idee von Tätigkeit und Tüchtigkeit. Ich frage mich dann zum Beispiel, ob diese Zeit unsere Ansicht auf die Welt verändern wird und wie wir uns im Verhältnis zu unseren Wünschen und Bedürfnissen positionieren werden. Manche von uns werden zu dem Schluss kommen, dass sie ganz gern mit sich allein waren; andere lechzen nach der ersten zu durchtanzenden Nacht, den ersten Küssen und Umarmungen jenseits der Sperre. Ich weiß längst, zu welcher Gruppe ich gehöre... (In den heutigen Morgenstunden habe ich von der Liebe im Sommer geträumt, von stundenlangen Streifzügen an einem Fluss in Polen.) Es liegt darin eine schöne Bestätigung: dass ich richtig bin am Theater, wo nichts passieren würde ohne den Funkenflug der Begegnung. Ich vermisse es.
Wozu diese Zeit ernsthaft nützlich sein kann: herauszufinden, wie man selbst mit den Beschränkungen umgehen kann und will, was man von der asketischen Genügsamkeit hält, die allerorten in ein Kleinfamilienidyll umgedichtet wird. Bei Walter Benjamin habe ich eine schöne Beschreibung des Biedermeier gefunden:
„Im Musée des arts décoratifs im Louvre gibt es ein kleines Nebengelass, wo Spielzeug ausgestellt ist. Das Hauptinteresse des Beschauers ziehen einige Puppenstuben aus dem Biedermeier auf sich. Von den schimmernden Bouleschränkchen bis zu den kunstvoll gezimmerten Sekretären sind sie an jedem Teil das Gegenstück damaliger Patrizierwohnungen, und auf den Tischen dieser Räume liegt statt des »Globe« oder der »Revue des deux mondes« das »Magasin des poupées« oder »Le petit courrier« in 64° herum. Dass es Wandschmuck gibt, versteht sich von selbst. Aber nicht leicht ist einer darauf vorbereitet, in einem jener Stübchen überm Canapé auf eine winzige, jedoch exakt gestochene Nachbildung des Kolosseums zu stoßen. Das Kolosseum in der Puppenstube – das ist ein Anblick, der einem innigen Bedürfnis des Biedermeier muss entsprochen haben.“ (in: Deutsche Menschen) Ich für meinen Teil bevorzuge das Original gegenüber der Puppenstubendarstellung, und will mir das von niemandem ausreden lassen.
Ich träume also von Originalen, von Amphitheatern und Staatsopern, von der Versammlung der Körper und von der Liebe im Sommer. Ich träume von Ritualen. Neulich schrieb ich:
Heute Nacht wurde die Uhr umgestellt. Von wem, zu welchem Zweck? Wenn alles aufhört, warum bleiben dann die sinnlosen Konventionen bestehen? Sie bleiben eben dort sinnlos, wo sie nicht in ein Ritual überführt sind. Ich stelle mir vor, heute Nacht hätten alle Menschen sich vor ihren Haustüren versammelt und wären von zwei bis drei Uhr in die Luft gesprungen. Da ist sie, die verlorene Stunde – wir haben sie übersprungen ...
Wann dürfen die Theater wieder öffnen? Dass ein Publikum sich versammeln darf, mit ausreichend Abstand zueinander, ist eine Frage der Logistik und der Rentabilität. Doch der Knackpunkt sind die dichtgedrängten Menschen auf der Bühne und im Orchestergraben. Wie soll hier ein Sicherheitsabstand eingehalten werden? Tröpfcheninfektionen vermieden? Wo die Bühne doch nicht denkbar ist ohne jenen Funkenflug von Gedanken, Gefühlen und Schweiß.
Die Grundbedingung für Theater lautet: A agiert, B schaut zu. Seine wahre Lebendigkeit aber erfährt es erst, wenn C, D, F, K und seine Kinder, L und ihr Esprit, M und seine Einwände, wenn N und all die anderen zusammenkommen und ihr Herzblut zu einer Wasserschlacht zusammengießen. Dann lebt es, dann explodiert es nicht nur den ersten Zuschauerreihen ins Gesicht. Es ist das Lebendige, das jetzt fehlt.
Diese Erkenntnis ist für mich nicht ganz neu, aber ich habe es nie so klar gesehen wie jetzt: Das Theater ist das genaue Gegenteil von Corona. Wie fatal! Wie großartig!
PS: Ich höre viel Bach, vor allem seine Kantate „Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir“ (BWV 131), und immer wieder den Satz, in dem es heißt: „Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.“ Ich habe Aufnahmen miteinander verglichen und mich gewundert, wie langsam viele sind, wie ruhig sie voranschreiten. Wieviel Zeit braucht es denn, das Harren und das Hoffen?
Hinweis der Blog-Redaktion:
Martin Mutschlers Text ist inzwischen in überarbeiteter Form in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen.
Außerdem hat der Autor seinen Text, mit Begleitung eines Perkussionisten des Staatstheaters Hannover, für die Website des Theaters eingesprochen.
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