"Der unsichtbare Begleiter". Eine Kurzgeschichte
Kim Naemi Birtel, Alumna beim Early Bird-Frühstudium
Manchmal denke ich, ich könnte ihn spüren.
Wie er auf der anderen Seite der Kreuzung steht. Lächelnd und winkend »Tu es. Geh noch einen Schritt, trau dich” flüstert. Und immer wieder erschrecke ich und gehe lieber auf sicher zwei Schritte zurück. Und ich schaue zweimal, ob wirklich kein Auto kommt. Er sitzt auf den von Eis überzogenen Stufen im Winter und raucht gelassen eine Zigarette. Ein Blick reicht und ich klammere mich ans Treppengeländer.
Es ist eiskalt, aber was macht das schon, es gibt Sicherheit. Ich nehme bedacht Stufe nach Stufe. Ich schaue wieder zu ihm rüber, er zieht genüsslich an seiner Zigarette, verschmitzt zwinkert er mir zu. Ich stolpere und fühle Panik, mein Herz rast, das Adrenalin fließt, grade noch so kriege ich das Geländer wieder zu fassen. Keuchend erhole ich mich, spüre wie mein Herz noch pocht. Er schlägt nun entspannt eine Zeitung auf und überschlägt die Beine. »Heute nicht«, sage ich und erhalte nur ein gelangweiltes Schulterzucken als Antwort. Ich kämpfe mich den letzten Absatz hoch. Und stehe nun auf dem Bahnsteig Sternschanze. Die Luft zieht eisig durch die Pfähle, wirbelt Schneeflocken unachtsam und gnadenlos unter Mäntel und in Hosenbeine. Die S-Bahn Richtung Altona, angekündigt durch ein ohrenbetäubendes Rauschen, fährt ein. In ihren Scheiben spiegeln sich mein blasses Gesicht und die rote Nase. Und hinter mir ist er wieder, »traust du dich?”, fragt er herausfordernd. Ich gehe einen Schritt. Spüre den Wind, wie er durch meine Haare zieht.
Schaue in seine von tiefen Ringen gezeichneten Augen und schüttele den Kopf. »Vielleicht später«, sagt er nur, »vielleicht später«, flüstere ich zurück. Ich steige ein und setze mich schnell, bevor es zu voll wird. Die Luft ist grauenvoll stickig. Ich mache meinen Mantel auf und platziere meine Tasche auf meinem Schoß. Ich halte Ausschau nach ihm, aber finde ihn zuerst nicht. Bis ich in die letzte Reihe schaue. Er streicht mit seinen blassen Fingern einem vielleicht vierzigjährigen Mann über die Wange. Der Mann scheint kurz vorm Einschlafen zu sein. Seine Augenringe, der schlecht rasierte Bart und das zerknitterte Hemd erzählen eine Geschichte von Koffein und Kokain. Ich schaue mir dieses Trauerspiel nur ungern an. Doch er streicht weiter mit seinen knochigen Fingern über den Bart, gleitet durch die verbliebenen Haare. Lächelt mich dabei an. Und lässt seine Hand langsam zu dem Herz des Mannes gleiten. Ich halte die Luft an, bereit dafür, was kommt. Was sonst noch keiner erahnen kann. Da kommt die Bahn mit langgezogenem Quietschen zum Stehen.
S-Bahn-Station Stresemannstraße. Eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern steigt ein. Sofort quetschen die beiden sich an allen Passagieren vorbei und suchen sich einen freien Platz. Es ist der neben dem Mann mit dem schlecht gebügelten Hemd. Genervt zieht mein unsichtbarer Begleiter seine Hand von dem Herzen des Mannes und steht auf. Mit einem letzten angeekelten Blick auf die zwei Kinder dreht er sich um und schlängelt sich durch die Menge und flüstert mir noch zu »Was willst du bloß mit denen?« Lächelnd schaue ich mir die zwei jetzt an. In ihren Schneeanzügen sehen sie aus wie kleine Gartenzwerge. Aufgeregt zeigt der eine nun dem Mann im Knitterhemd seinen blauen Dinosaurier. Der Mann lächelt und erzählt den Jungen von seinem eigenen Sohn. »Er ist etwa dein Alter und hat auch ganz viele Dinos zu Hause.« Ich lächle und setze mir meine Kopfhörer auf. Und steige die nächste Station aus. Müde kämpfe ich mich durch den Schneematsch bis vor meine Haustür. Nur mit viel Gewalt kriege ich die verzogene Holztür auf. Mit immer einer Hand auf dem Treppengeländer laufe ich bis in den obersten Stock. Nach dem Abendbrot öffne ich die Luke zum Dach. Ich greife mir den Mantel und das leere Marmeladenglas. Und klettere hoch. Ich setze mich und drehe mir eine, die Sonne ist jetzt endgültig weg. Aber die Stadt unter mir ist nun umso heller. Ich nehme einen Zug, und da sehe ich ihn wieder, wie er auf dem Rand sitzt, die Beine schaukelnd. »Da bist du ja«, sage ich. Ich bekomme nur Schweigen zurück. »Na gut«, sage ich und setze mich neben ihn auf den Rand. Kurz wird mir mulmig, wenn ich in den Abgrund blicke. Ich gebe ihm eine Zigarette. Wir schweigen eine Weile vor uns hin. »Vielleicht ja morgen«, sagt er irgendwann, »vielleicht ja morgen«, stimme ich zu. Und ich erhasche sogar ein kleines Lächeln. Es ist irgendwie schön mit ihm. Vielleicht muss man manchmal dem Tod ganz nah sein, um das Leben wirklich zu lieben.
Kim Naemi Birtel wurde 2003 in Hamburg geboren, dort hat sie 2022 auch ihr Abitur gemacht. Schon immer hat sie gerne in großen Runden Geschichten erzählt. Vor einem Jahr hat sie auch angefangen, diese aufzuschreiben. Wenn sie nicht schreibt oder alles Mögliche fotografiert, trinkt sie mit Freunden stundenlang Kaffee. Und im Sommer betreut sie Kinder und Jugendliche in den Surfcamps des The Social Surf Club e.V.
Erika und Klaus Mann-Preis: Im Juni 2023 ist das Buch „Funkenflug“ mit den zehn besten Kurzgeschichten des Literaturwettbewerbs 2023 der Thomas Mann Gesellschaft Hamburg erschienen, aus dem die Geschichte von Kim Naemi Birtel stammt. Es versammelt Kurzgeschichten von Nachwuchsautor:innen im Alter von 16 bis 25 Jahren. Der Erika und Klaus Mann-Preis wurde im Rahmen des Festivals "Hamburg liest verbrannte Bücher" vergeben, das vom 10. Mai bis 10. Juni 2023 mit zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 erinnerte. Wir haben den Literaturwettbewerb aus dem Claussen-Simon-Fonds für Kunst & Kultur gefördert.
"Funkenflug". Erika und Klaus Mann-Preis 2023. Kurzgeschichten junger Autor:innen. Herausgeber: Thomas Mann Gesellschaft Hamburg e.V. Osburg Verlag 2023.
ISBN 978-3-95510-338-5
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