Corona geht (leider noch nicht), gleichzeitig werden derzeit weltweit zunehmend Lockerungen umgesetzt – was bleibt?
Dr. Jennifer Guse, Dipl.-Psychologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am UKE Hamburg
Der Lockdown in Deutschland wurde gelockert, und mir stellt sich die Frage, was bleibt? Oder anders formuliert – was soll bleiben? Als Wissenschaftlerin gehe ich dieser Frage mehr oder weniger strukturiert bei dem ein oder anderen Glas Wein nach. Vielen wird IMRaD (Introduction, Methods, Results and Discussion) als prinzipielle Struktur für wissenschaftliche Arbeiten bekannt sein: Warum das Ganze, und was weiß man? Welche Methoden wurden mit welchem Ergebnis eingesetzt? Wie lassen sich die Ergebnisse interpretieren und diskutieren?
Das Warum lässt sich kurz mit persönlichem Interesse beantworten. Da es sich um eine rein subjektive Betrachtung handelt, gestaltet sich die Frage nach dem Hintergrund sehr persönlich. Bei der persönlichen Bestandsaufnahme – was gibt es aufgrund/seit der Corona-Pandemie und was soll davon (vielleicht) bleiben – fallen mir in meinem persönlichen Umfeld spontan zahlreiche Dinge ein und auf: Neu entstandene Gemüsebeete auf Balkonen und Gärten, obwohl dies natürlich auch mit der Jahreszeit korrelieren könnte, neue beziehungsweise intensivierte Bekanntschaften oder sogar Freundschaften mit Menschen ganz in unserer Nähe trotz social distancing, beispielsweise in Form von Zulächeln oder Winken, wenn man sich nun täglich auf dem Nachbarbalkon, durch das Fenster oder über den Gartenzaun sieht, und nicht zu vergessen die 5kg-Pasta-Pakete, die mein Mann zu Beginn des wahrscheinlich werdenden Lockdowns stolz vom Einkauf mitgebracht hat. Auch wenn diese nicht langfristig bleiben werden, blockieren sie selbst bei unserem Pasta-Konsum mindestens mittelfristig unsere Küchenschubladen.
Bei meiner weiteren Reise durch das eigene Sein begegnet mir neben den sichtbaren Dingen vor allem meine Demut in Form von größtem Respekt gegenüber Menschen, die nicht erst seit der Corona-Pandemie in der vordersten Reihe stehen beziehungsweise arbeiten, um unsere Infrastruktur aufrechtzuerhalten, beispielsweise im Gesundheitsbereich, im Groß- und Einzelhandel inklusive Logistik, in der Entsorgungswirtschaft und der öffentlichen Verwaltung und Justiz. Nach acht Wochen (überwiegend) im Homeoffice mit zwei Kindern im Kita-Alter ist auch meine Hochachtung vor der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern fast ins Unermessliche gestiegen. Auch wenn unsere Kinder großartig die neuen Rahmenbedingungen mit uns leben, je nach Persönlichkeit anders, mal hoffnungsvoll „Mama, ist morgen auch noch Corona? Und übermorgen?“ von unserem Sohn, 5 Jahre, mal ungeduldig „Mama, ich möchte JETZT zum Tanzkurs! Du hast gesagt, ich darf Anfang April zum Tanzen…“ begleitet von einem Rumpelstilzchenstampfen unserer dreijährigen Tochter – es bleibt eine Herausforderung, Abläufe völlig neu zu organisieren, Strukturen und Routinen zu schaffen und beizubehalten, um Arbeit – für die ich sehr dankbar bin – zu ermöglichen, zum Beispiel durch Nutzung von Randzeiten zwischen 5 und 7 Uhr mit sich anschließendem normalen Tag mit Kindern und Homeoffice. Und die Flecken vom Malen, Basteln oder Kneten an Wänden und auf dem Fußboden auch. Gleichzeitig stellt diese intensive Zeit mit den Kindern neben Gesundheit das größte Geschenk für mich dar – immer in dem Bewusstsein, dass dieses Privileg nur durch die (relative) Sicherheit hinsichtlich Arbeit und Wohnen möglich ist.
Hinsichtlich der Methoden zur Ergründung meiner Frage – was soll bleiben? – merkte ich schnell, dass reine Introspektion meinem Anspruch nicht genügt. Vielleicht ist es auch meiner beruflichen Sozialisation mit ungezählten Befragungen geschuldet, dass ich spontan eine wohl gemerkt nicht repräsentative Mini-Befragung im Freundes- und Bekanntenkreis gestartet habe. Die Rückmeldungen auf die Frage „Was soll für dich ganz persönlich bleiben, was es seit/durch die Corona-Pandemie (bei dir) gibt?“ kamen prompt und zahlreich – herzlichen Dank dafür! Im Rahmen der Auswertung, die man methodisch gerne als induktive Kategorienbildung der qualitativen Inhaltsanalyse bezeichnen darf, fanden sich je nach Lebensphase und persönlicher Situation zum Teil überraschend ähnliche Rückmeldungen. Also, was sollte zukünftig bleiben?
Homeoffice, Haustiere und weniger Hektik. Natürlich wurden auch zahlreiche andere Aspekte genannt, gleichzeitig finden sich in dieser Trias die am häufigsten genannten wieder. Unabhängig vom Alter und Geschlecht herrschte einhellig die Meinung vor, dass (gelegentliches) Homeoffice, flexible Arbeitszeiten und Digitalisierung zu den positiven Errungenschaften der Corona-Pandemie gehören. Die zukünftige Akzeptanz und Weiterentwicklung flexibler und kreativer Lösungen seitens der Arbeitgeber wird hoffentlich auch in einer Post-Corona-Ära – wenn es diese geben wird – erhalten bleiben. Insbesondere die rasante Digitalisierung und die wahrscheinlich steile Lernkurve der meisten beteiligten Menschen bieten vielfältige Möglichkeiten mit weitreichenden Folgen. Geschäftsreisen dürften beispielsweise zukünftig kritisch hinterfragt werden, um die Notwendigkeit versus der Einsparung von Ressourcen bei Nutzung von Videokonferenzen als mögliche Alternative abzuwägen. Vertonte Powerpoint-Präsentationen, digitales Mentoring und weitere Umsetzungsformen in der digitalisierten Hochschullehre und der Studierendenbetreuung erhalten ein unglaublich positives Feedback von Studierenden. Auch hier ist anzumerken, dass sich meine Einschätzung auf anekdotische Rückmeldungen sowohl von Studierenden als auch Lehrenden stützt. Eine wissenschaftliche Studie unter anderem hierzu startet an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg in den nächsten Tagen.
Die Anschaffung von Haustieren während der Corona-Pandemie interpretiere ich eher als zeitliche Koinzidenz vor dem Hintergrund eines langfristigen Entscheidungsprozesses. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass es sich hier um eine Einzelnennung handelte. Ganz im Gegensatz dazu der Aspekt „weniger Hektik“, genannt von fast allen Befragten, beschrieben in unterschiedlichster Form beispielsweise als weniger Freizeitstress im Sinne von Taktung von privaten Terminen und Treffen oder (Ver)planung von Wochenenden für ein Jahr im Voraus. Ohne den Verlust von sozialen Kontakten als einen der wahrscheinlich größten Stressoren während der Corona-Pandemie verharmlosen zu wollen, scheint die Zeit mit sehr reduzierten Kontakten und gleichzeitig zahlreichen neuen Herausforderungen zu einer als äußerst wertvoll erlebten Erfahrung von Entschleunigung und mehr Gelassenheit beizutragen – immer vorausgesetzt natürlich, die menschlichen Grundbedürfnisse sind erfüllt. Es braucht scheinbar einen Grund, um Veränderungen dieser Art herbeizuführen und zu be- oder entschleunigen. Nach der Frage, was davon erhaltenswert ist, die gerne jeder auch für sich selber beantworten darf, könnte sich die Frage anschließen, wie dies konkret gelingen kann.
Unzählige Dinge, die mir Freunde, Familie und Bekannte schrieben, habe ich nicht erwähnt und bitte dies zu entschuldigen. Gleichwohl möchte ich nachfolgend dennoch eine kleine Sammlung von Aspekten, die bleiben sollen, ergänzen: Online-Sportkurse, die nach Hause gelieferte Biokiste, mehr Zeit zum Kochen, Meditation, die aufrichtige und unbürokratische Unterstützung – gegenseitig und staatlich, weniger Flugzeuge am Himmel und die nicht nur damit verbundenen positiven Auswirkungen fürs Klima, mehr Achtsamkeit im öffentlichen Raum (z.B. wer lässt wen vor?) … Ergänzungen sind willkommen!
Artikel kommentieren
Kommentare sind nach einer redaktionellen Prüfung öffentlich sichtbar.