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#Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation

Zwei Denkprozesse konkurrieren in meinem Gehirn ODER: Warum wir schlechte Angewohnheiten so schwer loswerden

Stefanie Henauer, Stipendiatin bei Dissertation Plus (Kognitive Neurowissenschaften)

Wir treffen täglich unzählige Entscheidungen, sowohl kleine als auch große, wichtige wie unwichtige. Ob wir uns dazu entscheiden, doch nochmals fünf Minuten die Augen zu schließen, heute im Homeoffice zu bleiben oder unsere Beziehung zu beenden. Alles in unserer Umwelt fordert eine Reaktion – oder eben auch keine Reaktion. Etwas weiterhin zu tun, beispielsweise den nervigen Netflix-Film weiterzugucken, ist auch eine Entscheidung.

Da uns aber das bewusste Entscheiden über jede Kleinigkeit überwältigen und wahrscheinlich handlungsunfähig machen würde, hat unser Gehirn zwei unterschiedliche Entscheidungssysteme zur Verfügung: Das eine System behandelt unsere Umwelt bewusst und rational, das andere unbewusst und nach „Bauchgefühl”. Diese zwei kognitiven Prozesse werden auch langsames und schnelles Denken genannt; ein bewusster Vorgang benötigt mehr Zeit und Kapazitäten und dauert daher auch länger. Schnelles Denken dagegen geschieht so blitzschnell und unterbewusst, dass es uns meist gar nicht auffällt, und wenn, dann erst im Nachhinein. Zum schnellen Denken gehören unter anderem Automatismen wie eine Morgenroutine, bei der wir ganz unbewusst immer dieselben Handlungen und meist in derselben Reihenfolge erledigen. Dieses schnelle Denken spart Energie (bzw. allgemein Ressourcen) und wird deshalb bevorzugt angewendet. Langsames Denken kommt hingegen zum Einsatz, wenn schwierige, neue oder geänderte Aufgaben anstehen, weil dort Unsicherheit herrscht.

Schnelles Denken ist ideal für wiederkehrende und bekannte Probleme, zum Beispiel über den besten Weg vom Zuhause zum Supermarkt. Es bietet eine Art Denkabkürzung. Das Anwenden von sogenannten Heuristiken hilft hierbei, effizient einfache Entscheidungen zu fällen und nach Erfahrungswerten zu handeln. Das Problem entsteht, sobald eine Heuristik falsch liegt, weil zum Beispiel eine Situation einfacher erscheint, als sie eigentlich ist. Sogenannte Trickfragen illustrieren diesen Effekt ganz schön: „Du läufst einen Wettkampf und überholst den Läufer auf Platz 3. Auf welchem Rang bist du jetzt?”. Nimmt man sich jedoch etwas Zeit, erkennt man schnell, dass eine solche Frage nicht so einfach zu beantworten ist, wie es zuerst den Anschein hatte. Außerdem können auch Probleme entstehen, wenn die Erfahrungswerte, auf denen die Entscheidung aufbaut, fehlerhaft sind. Studien haben gezeigt, dass unser Gehirn sogar zufällige bzw. irrelevante Zahlen als Orientierungshilfe verwendet oder einfacher abrufbare Informationen stärker gewichtet werden als die eigentlich relevanten.
Dies sind harmlose Beispiele, die uns nur veranschaulichen, wie unser Gehirn funktioniert. Natürlich wird es gefährlicher, wenn diese Denkmuster dazu führen, dass wir zum Beispiel unbewusst rassistische Urteile über Menschen treffen, weil wir so sozialisiert wurden. Die Nationalität eines Täters in den Nachrichten zu nennen, ist oftmals irrelevant, die reine Präsenz dieser Information signalisiert uns aber, die wäre grundsätzlich relevant. Schnelles Denken ist nützlich, weil es Ressourcen spart. In gewissen Situationen kann es aber eben auch unerwünschte Ergebnisse bewirken. Die Herausforderung besteht darin zu erkennen, wann wir problematische Denkabkürzungen anwenden, damit wir mit bewusstem, langsamem Denken einen neuen Automatismus aufbauen können. 

Solche unbewussten Tendenzen bei uns selbst zu erkennen, ist schwierig, aber die Erkenntnis darüber ist der erste Schritt dahin, sie zu ändern, falls sie unerwünscht sind. Es geht also zunächst darum, ein Bewusstsein für die Denkmuster des schnellen Denkens zu bilden und danach gezielt mit langsamem Denken daran zu arbeiten. Dies benötigt Übung und Energie, aber je öfter wir unser eigenes Denken überdenken bzw. bewusst analysieren, desto mehr Übung kriegen wir darin, unsere unbewussten Denkmuster zu erkennen. 

Ein einfaches Beispiel dafür, wie wir schnelles Denken „verlangsamen“ können, ist das Umlernen einer Gewohnheit, zum Beispiel auf Süßigkeiten zu verzichten. Der Neujahrsvorsatz lautet, weniger Ungesundes zu essen. Jedoch sollte man dann zunächst analysieren, in welchen Situationen man Süßigkeiten zu sich nimmt: Wartet vielleicht jeden Abend nach dem Abendessen auf dem Couchtisch eine Tüte Gummibärchen? Automatisch greift man dann zu. Erkennen wir, dass dies automatisiert passiert, kann man daran arbeiten, indem die Gummibärchen nicht mehr griffbereit im Wohnzimmer liegen („aus den Augen, aus dem Sinn”). Noch besser für den Neujahrsvorsatz ist natürlich, gar keine Gummibärchen-Vorräte mehr zuhause zu haben. Dafür ist allerdings eine bewusste Entscheidung notwendig, sie nicht mehr im Supermarkt zu kaufen. Das fällt leichter, wenn man seine gewöhnliche Route im Supermarkt bewusst ändert und beispielsweise den Weg durch die Süßigkeiten-Regale ganz vermeidet. Oder man ändert seine Routine nach dem Abendessen komplett und wechselt nicht auf die Couch, sondern entscheidet sich für eine andere Beschäftigung, die nicht mit Gummibärchenessen verknüpft ist. Beispielsweise könnte man stattdessen leichte Yogaübungen machen und sich so alternativ beschäftigen.

Auch wenn das Umtrainieren von schlechten Gewohnheiten anfangs sehr anstrengend sein kann, sollte man immer das Ziel im Auge behalten und sich gewiss sein, dass es nach und nach einfacher wird. Je öfter wir zum Beispiel der Gummibärchen-Versuchung widerstehen bzw. eine alternative Gewohnheit beginnen aufbauen, desto stärker wird diese automatisiert und desto leichter fällt sie uns – idealerweise wechselt die gesündere Alternative dann vom langsamen zum schnellen Denken, weil sie sich als eine neue Routine verfestigt hat. Da dieses Umlernen anstrengend ist, sollte man nicht sein ganzes Leben vom einen auf den anderen Tag umzukrempeln versuchen, sondern Schritt für Schritt an neuen Automatismen arbeiten. Außerdem ist es einfacher, Gewohnheiten zu ändern, die auch im Verhalten bemerkbar sind. Grundsätzlich nutzen wir aber dieselben Prozesse, ob wir automatisiertes Verhalten oder automatisierte Gedanken verändern wollen. Wir können also erstmal an messbaren Verhaltensänderungen arbeiten und die daraus gewonnene Übung dann für anspruchsvollere Aufgaben nutzen. Die Hauptsache ist, dass wir uns unserer selbst bewusster werden und uns ab und zu fragen, ob wir auch so leben, wie wir das gerne möchten. 

Außerdem gilt: Starte klein! Es ist ein größerer Schritt, sich nicht wie üblich direkt aufs Sofa zu setzen, sondern zuerst noch kurz den Müll rauszubringen oder wenigstens einmal in anderes Zimmer zu gehen. So verhält es sich auch mit sportlichen Vorsätzen. Keinen Sport und dann konsequent fünf Minuten Übungen pro Tag zu machen, ist die größere Hürde, als die Sporteinheit von 5 auf 60 Minuten auszudehnen. Meistens ist das Unterbrechen von alten Gewohnheiten und das Anfangen und Automatisieren von neuen Tätigkeiten der wichtigste Schritt – egal wie ambitioniert das gewünschte Ziel ist.


Quellen und Lesetipps: 
Kahneman, D. (2011). Thinking, fast and slow. Farrar, Straus and Giroux.
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science, 185(4157), 1124–1131.
Clear, J. (2018). Atomic habits: tiny changes, remarkable results : an easy & proven way to build good habits & break bad ones. New York, Avery, an imprint of Penguin Random House.

Foto: Sven Wied

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