Warum Hanau uns alle angeht: Zur Relevanz rassismuskritischer Bildung in Deutschland aus weißer Perspektive
Liesa Rühlmann, Dissertation Plus-Alumna und ehemalige Horizonte-Tutorin
Heute jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal. Am Abend des 19. Februar 2020 mussten Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov sterben, weil ein Rassist sie als ‚anders‘ Markierte und nicht als selbstverständliche Mitglieder der Gesellschaft sah. Die Tat, die vor allem durch die Arbeit der Angehörigen und weiterer von Rassismus betroffener Menschen auf Social Media, in Zeitungen und im TV thematisiert wurde und wird, geschah nicht allein deshalb, weil der Täter rassistisch handelte. Sie geschah auch, weil der Täter in einer Gesellschaft lebte, in der ein solches Handeln möglich ist. So schreibt die Autorin Sibel Schick im Februar 2021 in ihrem Newsletter ‚Saure Zeiten‘: „In einem Land, in dem ein angemessener Umgang mit Rassismus herrscht, in dem Rassismus kollektiv sanktioniert und stigmatisiert wird, in dem alle Leben gleich wertvoll sind, und alle Menschen Mensch, kommen rassistische Anschläge nicht zustande.“
Sibel Schick macht mit ihren Ausführungen darauf aufmerksam, dass Rassismus nicht lediglich ein individuelles Problem ist, sondern strukturell betrachtet werden muss. An dieser Stelle ist es wichtig, dass auch Menschen, die keinen Rassismus erleben – weiße [1] Menschen – sich mit Rassismus beschäftigen, lernen, wie Rassismus sich gestaltet sowie auswirkt und welche Rolle die eigene Positionierung im rassistischen System spielt. Gesellschaftlich als weiß konstruiert und verstanden zu werden, ist ein Privileg; nicht zuletzt, weil weiße Menschen nicht fürchten müssen, aufgrund ihres Weißseins ermordet zu werden. Aus der Positionierung als Person, die nicht als ‚anders‘ markiert gilt und nicht rassistisch diskriminiert wird, ergibt sich eine Verantwortung und die Notwendigkeit solidarischen Handelns. Aus einer solchen Positionierung erfolgt dieser Beitrag. Als weiße, im akademischen und aktivistischen Kontext mit Rassismus(-kritik) befasste Person ordne ich es als wichtig ein, mich zu Hanau zu verhalten und zu agieren.
Angehörige der Ermordeten und weitere solidarische Menschen haben in Hanau als „Initiative 19. Februar“ einen (spendenfinanzierten) Ort des Zusammenkommens geschaffen, einen Ort des Erinnerns und des Kämpfens. Seit nun zwei Jahren engagieren sich dort Menschen für Gerechtigkeit, gegen Rassismus und dafür, dass die Namen der Ermordeten nicht vergessen werden. Im Rahmen von Schlagworten machen sie ihre Forderungen deutlich: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Auf Plakaten, die auf ihrer Website und auf ihren Social Media-Seiten aufgerufen werden können, fordert die Initiative überdies: „Erinnern heißt verändern“.
Dort setzt dieser Blogbeitrag an: Damit gesellschaftliche Strukturen, die durch Rassismus geprägt sind, sich ändern, ist es unabdingbar, dass vor allem auch weiße Menschen agieren und sich rassismuskritisch bilden. Es erfordert eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung, einer Bewusstwerdung weißer Privilegien und der Nutzung dieser Privilegien für den Abbau von Rassismus. Eine Aufgabe ist es hierbei beispielsweise, als weiße Person mit weiteren weißen Personen über Rassismus zu sprechen und ihnen zu helfen, „Happyland“ zu verlassen. Tupoka Ogette, Beraterin für Rassismuskritik, nutzt den Begriff „Happyland“, um den Zustand zu beschreiben, in dem weiße Menschen sich befinden, bevor sie sich aktiv und kontinuierlich mit Rassismus beschäftigen. Ein solches „Happyland“ gibt es für Menschen, die Rassismus erfahren, nicht, was auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen verweist, die im rassistischen System wirksam sind. Während weiße Menschen sich entscheiden können, in „Happyland“ zu bleiben, ist dies Schwarzen Menschen und Personen of Color [2] nicht möglich, da sie von rassistischer Diskriminierung betroffen sind und sich somit unweigerlich mit Rassismus beschäftigen müssen. Dieses Ungleichgewicht macht deutlich, warum weiße Menschen sich aktiv mit Rassismus auseinandersetzen und Verantwortung übernehmen müssen, wenn ihnen eine gerechtere Gesellschaft wichtig ist.
Eine wichtige Säule, um Rassismus auf struktureller und institutioneller Ebene zu begegnen, ist der Bildungsbereich. Rassismus ist in Bildungsräumen alltäglich und prägt Zugänge und Erfahrungen. Serpil Temiz Unvar spricht in diesem Zusammenhang häufig über die Erlebnisse ihres ermordeten Sohnes Ferhat Unvar, der in der Schule Benachteiligung erfahren hat (bspw. hier). Auch eine viel zitierte Studie der Bildungsforscher:innen Meike Bonefeld und Oliver Dickhäuser (2018), in Medien häufig als ‚Max und Murat‘-Studie bezeichnet, verweist darauf, wie wirksam rassistische Konstruktionen in der Schule sind. So wurden Lehramtsstudierenden Diktate der beiden fiktiven Schüler:innen Max und Murat vorgelegt. Dass Max bei gleicher Fehlerzahl bessere Noten erhielt, verweist nicht nur auf die Ungleichbehandlung von Schüler:innen, sondern auch darauf, welche Marker hierbei wirksam sind. Im Fall der Studie ist es der Name, der dazu führt, dass es zu Annahmen kommt, wer leistungsstärker sei, die wiederum durch rassistische Zuschreibungen bedingt sind. Max wird vermutlich als weiß imaginiert, während Murat als Person of Color positioniert wird, wobei seine (fiktiven) Diktate schlechter bewertet werden (mehr zur Studie bspw. im Renk Magazin). Darauf, dass Schwarze Menschen und Personen of Color in Deutschland häufig als nicht oder schlecht deutschsprachig verortet werden, was ein alltägliches rassistisches Narrativ ausmacht, geht beispielsweise auch die Bildungswissenschaftlerin Jennifer Danquah im Talk beim FC Bayern München ein. Wäre ‚Max‘ real und wäre Max Schwarz, so könnte davon ausgegangen werden, dass auch Max schlechter als weiße Mitschüler:innen benotet werden würde, worauf auch Ergebnisse des Afrozensus verweisen. 50,8% (N= 463) der hierfür befragten Schwarzen Eltern geben an, dass ihr Kind bei gleicher Leistung schlechtere Noten erhält als nicht-Schwarze Mitschüler:innen.
Zuschreibungen von Lehrkräften geschehen – wie viele Rassismen – häufig unbewusst und ohne böse Absicht. Eine solche unbewusste Annahme zeigt sich darin, dass weiße Personen in der Regel beispielsweise eher als intelligent und hübsch positioniert werden als Personen of Color und Schwarze Menschen (siehe bspw. Susan Arndt im Campus Talk). Dass bereits Kinder solche Denkweisen übernehmen, unabhängig davon, ob sie selbst Rassismus erfahren oder nicht, zeigt sich im Doll Test: Dabei werden Kinder aufgefordert, ihnen vorgelegte Puppen zu bewerten. Hierbei werden weißen Puppen häufig positive Attribute zugeschrieben und Schwarze Puppen als weniger schlau und hübsch positioniert. An dieser Stelle wird deutlich, wie verankert rassistische Stereotype und Zuschreibungen bei allen Menschen sind, weshalb es so wichtig ist, diesen zu begegnen.
Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“, die von Serpil Temiz Unvar ins Leben gerufen wurde, hat sich die Thematisierung von Rassismus im schulischen Kontext zur Aufgabe gemacht, sie führt Workshops mit Schüler:innen durch – ehrenamtlich und nicht von staatlicher Seite finanziert. Dass rassismuskritische Bildungsangebote wie diese oder auch die Initiative „Bildung-Macht-Rassismus“ aus Hamburg ihre Arbeit vor allem mithilfe von Spenden oder anderen unabhängigen Förderungen durchführen, verweist auf die immer noch schwierige Situation der Etablierung solcher Angebote auf institutioneller und struktureller Ebene. Um Rassismus zu begegnen, müssen rassismuskritisch arbeitende Initiativen und Individuen (finanziell) gestärkt und Angebote auf (Hoch-)Schulebene ausgebaut werden. Nur so kann es Menschen ermöglicht werden zu verstehen, inwiefern Rassismus alltäglich und gesellschaftsprägend ist. Als bei „Bildung-Macht-Rassismus“ tätige Person schätze ich es an dieser Stelle sehr, dass die Claussen-Simon-Stiftung diesen Bedarf erkennt und unsere Arbeit finanziell unterstützt und damit ermöglicht.
In dem Sammelband „Texte nach Hanau“ schreibt die Autorin Keça Filankes in ihrem Gedicht „Eine Rede“:
„Sprich es aus, Deutschland.
Tuschel nicht.
Flüster nicht.
Sag das Wort.
Sag es.
Rassismus.“
In Anschluss an Keça Filankes plädiere ich dafür, mehr über Rassismus zu sprechen und zu verstehen, dass Rassismus sich nicht erst durch Morde wie in Hanau bemerkbar macht, sondern alltäglich und strukturell verankert ist.
Wir, vor allem weiße Menschen, müssen handeln, wenn wir eine Gesellschaft wollen, in der Taten wie die in Hanau nicht mehr möglich sind. Wir müssen kontinuierlich an unserem Verständnis von Rassismus arbeiten, um ihm zu begegnen. Es ist wichtig, dass wir an die Opfer der Tat in Hanau erinnern, ihrer gedenken. Dieses Erinnern erfordert auch Handeln. Denn: Erinnern heißt verändern.
Meine Gedanken und Solidarität gelten an diesem schweren Tag und immer den Angehörigen und Freund:innen der Ermordeten sowie von Rassismus betroffenen Menschen.
Die „Initiative 19. Februar“ macht unter dem Hashtag #saytheirnames in Social Media darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, dass wir nie vergessen, wer die Ermordeten waren:
#saytheirnames: Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.
[1] Da die Begriffe Schwarz und weiß keine biologischen Eigenschaften beschreiben, sondern als soziale Konstruktionen und Positionierungen in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft wirksam sind, verwende ich diese jeweiligen Groß- bzw. Kursivschreibungen, um diesem Umstand Nachdruck zu verleihen. Ich schließe mich damit den zumeist im deutschsprachigen rassismuskritischen Diskurs genutzten Schreibweisen an. Schwarz wird großgeschrieben, um herauszustellen, dass der Begriff eine Selbstbezeichnung darstellt, die sich von Fremdbezeichnungen abgrenzt und auf diese Weise Widerstand und Handlungsräume Schwarzer Menschen unterstreicht. Auch der Begriff weiß beschreibt nicht den Hautton einer Person, sondern die soziale Konstruiertheit ebendieser Positionierung, die mit Privilegierung im rassistischen System einhergeht (vgl. Natasha A. Kelly 2019).
[2] Dieser Begriff stellt eine Selbstbezeichnung von Rassismus betroffener Menschen dar. Mit „‘of Color’ wird nicht die (Haut-)Farbe, sondern die gemeinsame Erfahrung, die mit der Geschichte des Rassismus einhergeht, fokussiert” (Kelly 2019, 7).
Bild: Michel Dingler
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