Systemrelevant versus nicht-systemrelevant – ein Plädoyer für die Kunst
Maria Eplinius, Bereichsleiterin Dialog & Perspektive
In Zeiten von Corona entfaltet sich vor mir ein ganz neues Vokabular. Ich gehe nicht mehr mit Kollegen und Kolleginnen zu Veranstaltungen, sondern bleibe gleich nach dem Homeoffice gemütlich auf meinem Sessel sitzen und gehe online. Ich skype nicht nur, sondern fange an zu zoomen. Ich spreche nicht mehr von freischaffenden Künstlern/-innen, sondern von Solo-Selbstständigen. Eine Dichotomie, die zurzeit in aller Munde ist und die ich gerne diskutieren möchte, ist die Unterscheidung zwischen systemrelevanten und nicht-systemrelevanten Berufen. Wird im derzeitigen Diskurs von systemrelevanten Berufen gesprochen, dann ist die Rede von Pflegepersonal, Ärzten/-innen, Erziehern/-innen, Verkäufern/-innen, Reinigungskräften, Fahrzeugführern/-innen. Viele andere Berufe wären demnach nicht-systemrelevant.
In den letzten zwei Wochen habe ich mit vielen jungen Künstlern/-innen, die zu Beginn ihrer Selbstständigkeit das stART.up-Förderprogramm der Claussen-Simon-Stiftung absolviert haben, telefoniert, geschrieben, gechattet und gezoomt. Sie trifft es gerade besonders, da viele von ihnen als Solo-Selbstständige direkt von den Maßnahmen zur Verlangsamung der Pandemie betroffen sind. Immer wieder hörte ich resignierte Alumni/-ae, die zu mir sagten, dass sie einen nicht-systemrelevanten Beruf ausübten und deshalb zurzeit nicht wüssten, inwieweit es sich lohnen würde, weiter an der Kunst zu arbeiten, neue Projekte zu schaffen und als Künstler/-in in die Zukunft zu blicken. Moment! In Bezug auf Kunst und Kultur sind die Kategorien systemrelevant und nicht-systemrelevant sehr irreführend. Es sollten nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Im derzeitigen öffentlichen Diskurs lese ich die Kategorien der Systemrelevanz lediglich in Bezug auf die Frage: Wen und was brauchen wir, damit wir nicht sterben und mit allem Nötigsten versorgt sind? Es geht also ganz klar um die Frage nach Leben und Tod. Es handelt sich um eine bis dato unbekannte und bislang nicht erlebte Situation, aus der heraus extreme Fragestellungen generiert werden, aus deren Antworten wiederum Kategorien aufgestellt werden, um Entscheidungen so schnell und so unkompliziert wie möglich zu treffen.
Wenn derzeit im öffentlichen Diskurs über Künstler/-innen gesprochen wird, dann häufig als mittellose Solo-Selbstständige ohne Rücklagen und derzeitige Auftrittsmöglichkeiten. Auch wenn in Zeiten von Covid-19 eine große Verunsicherung an mich herangetragen wird, nehme ich gleichzeitig eine Rastlosigkeit war. Gestern konnte ich mich live zu einem Festival der darstellenden Künste hinzuschalten, meine eingeschlafen geglaubte Facebook-Community strotzt nur so vor Livestreams, und wenn ich nicht wüsste, dass die Anschaffung eines Instagram-Accounts dazu führt, dass ich mich voll und ganz aus der Offlinewelt verabschiede, dann wäre ich bestimmt schon mit Miley Cyrus live gegangen.
Nach dieser Frage des Gesundheitsschutzes beschäftigt uns derzeit eine weitere wichtige Frage: Wie wollen wir in Zeiten von Corona und in Zukunft als Gemeinschaft zusammenleben? Eine positive Erkenntnis für mich aus den letzten Tagen ist, dass die Corona-Krise an sich auch und gerade Gegenstand der Auseinandersetzung für Künstler/-innen sein kann. Aufgrund von welchen Normen und Werten wir uns während und nach der Krise als Gemeinschaft konstituieren, wie wir gemeinsam auf die Krise in der Praxis reagieren, welche Handlungsoptionen wir aus den Kontaktsperren sowie Quarantänemaßnahmen entwickeln, sind verhandel- und aushandelbar. Kunst und Kultur können Diskussionsräume schaffen, Widersprüche und alternative Entwürfe aufzeigen, Augen öffnen, Perspektiven erweitern. Der Hamburger Kultursenator Dr. Carsten Brosda, schreibt in seinem Aufsatz „Der Nachhall des Schocks“ darüber, dass es auch darum geht, „Alternativen zum derzeitigen nicht Möglichen“ zu entwickeln. Prioritäten und Routinen werden neu ausgehandelt werden müssen, damit wir nicht auf einen Status quo ante zurückfallen. In Bezug auf die Kunst- und Kulturlandschaft heißt das meinen Erfahrungen nach, dass wir über die Vergabekriterien von Förderfonds diskutieren müssen, über den Zeitpunkt von Vertragsabschlüssen, über den Schutz des geistigen Eigentums, über Honorare, über die Technikausstattung, eine stabile Internetverbindung, über interaktive Onlineformate (die diese Bezeichnung auch verdienen), über Ästhetik, über Teilhabe u.v.m. Es geht jedoch nicht nur in der Kunstwelt darum, den Diskurs über neue mögliche Positionen zu beleben und Interventionen aufzumischen. Senator Brosda fordert alle auf, „(…) schon jetzt die Zeit nach der Pandemie, nach den Ausgangsbeschränkungen und den Notmaßnahmen in den Blick zu nehmen“. Damit wird der Blick auf die gesamtgesellschaftliche Solidarität gerichtet.
Mit dem in der letzten Woche ausgerufenen „Was zählt!“-Fonds für Kunstschaffende der Claussen-Simon-Stiftung möchten wir unseren Geförderten und Alumni/-ae gerade in dieser verunsichernden Zeit finanziellen Halt und gleichzeitig die Möglichkeit geben, dieses Hier und Jetzt in der Gemeinschaft nach- bzw. vorzudenken. Es geht uns darum, Freiräume zu bieten, um Projektvorhaben, denen bestimmten Offline-Kulturpraxen zugrunde lagen, neu zu denken und zu reorganisieren. Darüber hinaus sind auch neue Projektansätze herzlich Willkommen, die es in einem ersten Schritt zu recherchieren sowie zu konzipieren und in einem zweiten Schritt auszuprobieren gilt.
Die Begrifflichkeiten systemrelevant vs. nicht-systemrelevant, wie sie im aktuellen Diskurs verwendet werden, sollten zu keiner Zeit Kunst- und Kulturschaffende in ihrer Handlungsfähigkeit verunsichern und auf keinen Fall zu Resignation oder gar Stillstand führen. Aus meiner Sicht ist es jetzt wichtig, dass auch in Zeiten von Corona künstlerische Räume entstehen, aus der sich eine solidarische Gemeinschaft immer wieder neu konstituieren kann.
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