Zum Inhalt springen

#Bildung #Bildungsgerechtigkeit #Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation

Postkoloniales Lernen: Keine bloße Übertragung der NS-Erinnerungskultur auf den Kolonialismus

Sidney Oliveira, Stipendiat bei Dissertation Plus und Tutor der Horizonte-Geförderten

Postkoloniales Lernen ist zentral zur kritischen Analyse und Dekonstruktion kolonialer Machtstrukturen, welche die Wissensproduktion nachhaltig prägen. Viele Initiativen beschränken sich auf symbolische Maßnahmen wie die Umbenennung von Straßennamen oder die Neugestaltung von Denkmälern (vgl. Zimmerer 2015, S. 23). Diese symbolischen Schritte sind zwar wichtig, reichen jedoch nicht aus, um tief verankerte epistemische Strukturen zu dekonstruieren, die bis heute fortwirken. Postkoloniales Lernen muss über Symbolik hinausgehen und tief in gesellschaftliche und epistemische Strukturen eindringen, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken (vgl. Said 1978, S. 189; Spivak 1988, S. 90). Ein Beispiel für postkoloniales Lernen könnte im Politikunterricht die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen kolonialer Wirtschaftsstrukturen auf heutige globale Disparitäten sein. Lernende untersuchen, wie koloniale Praktiken zur heutigen Verteilung von Reichtum und Ressourcen beitragen und welche politischen Maßnahmen notwendig wären, um historische Ungerechtigkeiten zu adressieren. Sie könnten dabei lernen, die kolonialen Ursprünge gegenwärtiger Machtverhältnisse zu erkennen und kritisch zu reflektieren (vgl. Hall 1992, S. 185 ff.). Es ist dabei zu beachten, dass postkoloniales Lernen im didaktischen Kontext bisher nicht stark erforscht ist. Die Integration postkolonialer Ansätze in Lerninhalte, -medien, -methoden und -ziele erfordert daher sowohl theoretische als auch praktische Pionierarbeit, da es noch an etablierten Konzepten und didaktischen Modellen mangelt, die diesen Ansatz systematisch fördern (vgl. Castro Varela 2020, S. 1 ff.).

Koloniale Machtverhältnisse beeinflussen die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben, soziale und politische Realitäten konstruiert und Diskurse dominiert werden (vgl. Chakrabarty 2008, S. 8 ff.). Diese tiefen Machtstrukturen erschweren die notwendigen Veränderungen erheblich. Postkoloniales Lernen muss institutionell und individuell verankert werden, um ein Bewusstsein für die Konstruktion von Wissen und die zugrunde liegenden Machtverhältnisse zu schaffen. Solange koloniale Denkmuster nicht radikal hinterfragt werden, bleiben symbolische Gesten wirkungslos.

Postkoloniales Lernen: Mehr als Erinnerungspolitik

In Deutschland wird postkoloniales Lernen oft auf symbolische erinnerungspolitische Maßnahmen beschränkt. Solche Schritte signalisieren, dass die koloniale Vergangenheit als problematisch anerkannt wird. Sie bewirken jedoch keine tiefgreifenden strukturellen Transformationen. Stattdessen bedarf es einer radikalen Hinterfragung der Grundlagen unserer Wissensproduktion (vgl. Loomba 2005, S. 53 ff.). Der Kolonialismus besetzte nicht nur physische Territorien, sondern auch intellektuelle Räume. Ein Beispiel für die Besetzung intellektueller Räume ist die Dominanz eurozentrischer Wissenssysteme, die alternative Perspektiven, wie indigene oder afrikanische Erkenntnispraktiken, systematisch marginalisieren und als minderwertig darstellen. Diese Einflüsse sind bis heute auch tief in wissenschaftlichen Disziplinen verankert. Eine Dekolonisierung erfordert daher eine Neuorientierung der Wissensproduktion. Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft müssen ihre Verstrickungen in koloniale Machtverhältnisse kritisch analysieren und alternative Wissensformen einbeziehen (vgl. ebd., S. 58 ff.). Selbst die Naturwissenschaften sind nicht frei von kolonialen Einflüssen, da auch sie oft im Kontext kolonialer Interessen entwickelt wurden und Wissen systematisch aus einer eurozentrischen Perspektive interpretiert haben. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurden häufig universalisiert und als objektiv dargestellt, ohne dabei die spezifisch europäischen Entstehungskontexte zu reflektieren. Beispielsweise wurden biologische Klassifikationen und anthropologische Theorien genutzt, um rassistische Hierarchien zu legitimieren, was bis heute Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie naturwissenschaftliches Wissen konzipiert und vermittelt wird (vgl. Said 1978, S. 38).

Epistemische Gewalt und die Dekolonisierung des Wissens

Edward Said beschrieb in „Orientalism“ die epistemische Gewalt des Kolonialismus, der Wissen als neutral und objektiv darstellte, obwohl es eurozentrisch geprägt war (vgl. Said 1978, S. 300 f.). Diese Dominanz führt zur systematischen Ausschließung alternativer Wissenssysteme – etwa indigener oder subalterner Positionen. Ein tiefgehendes postkoloniales Lernen erfordert die Dekolonisierung des Wissens selbst. Es geht darum, institutionelle Rahmenbedingungen der Wissensproduktion zu hinterfragen. Bestehende Machtstrukturen und Widerstände erschweren diesen Prozess erheblich, da diejenigen, die von der gegenwärtigen Ordnung profitieren, einer radikalen Veränderung meist entgegenstehen (vgl. Mbembe 2015, S. 6).

Es genügt nicht, koloniale Straßennamen zu ändern – auch die Perspektiven, die Lerninhalte gestalten, müssen hinterfragt werden. Wer schreibt die Lehrpläne? Welche Perspektiven werden ignoriert? Die Arbeiten von Gurminder K. Bhambra und Ranajit Guha verdeutlichen, dass die Stimmen der Subalternen – jener marginalisierten Gruppen, die durch koloniale Machtverhältnisse zum Schweigen gebracht wurden – systematisch ausgeschlossen bleiben, weil eurozentrische Lehrpläne und Wissensstrukturen weiterhin die Diskurse dominieren (vgl. Guha 1982, S. 37; Galastri 2018, S. 56).

Die Rolle der Erinnerungskultur

Die deutsche Erinnerungskultur ist stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt. Zunehmend gibt es Ansätze, die Erinnerung an Kolonialismus und Nationalsozialismus vergleichend zu betrachten (vgl. Kreienbaum 2021; Zimmerer 2023). Abgesehen davon, dass dabei oft die kritische Reflexion über den deutschen Kolonialismus in den Hintergrund tritt, stellt sich die Frage, für wen die Erinnerungskultur gedacht ist – für weiße1  oder rassifizierte Menschen? Rassifizierte Menschen werden täglich durch kolonial produziertes Wissen, wie etwa strukturellen Rassismus, an den Kolonialismus „erinnert“. 

White Guilt, ein Konzept vergleichbar mit Kollektivschuld, beschreibt die Gefühle von Schuld und Verantwortung, die weiße Menschen empfinden, wenn sie mit den Verbrechen des Kolonialismus konfrontiert werden (vgl. Steele 2006). Diese Gefühle führen oft zu einer Erinnerungskultur, die vor allem der Reinwaschung von White Guilt dient, anstatt echte Transformation zu fördern (vgl. Mezirow 1990). Rassifizierte Menschen benötigen also nicht unbedingt zusätzliche Erinnerungen, sondern die Anerkennung und Überwindung fortbestehender kolonialer Strukturen.

Eine postkoloniale Erinnerungskultur müsste die Verbrechen des Kolonialismus explizit thematisieren und die daraus resultierenden Strukturen analysieren, die Institutionen und Diskurse prägen. Die Dekolonisierung der Erinnerung muss parallel zur Dekolonisierung der Wissensproduktion erfolgen, wobei auch die Positionen bzw. Positionalitäten rassifizierter Menschen berücksichtigt werden.

Konkrete Fragen für Lernen und Unterricht

Für Lernorte ergeben sich demnach folgende zentrale Fragen: Wie können Lehrpläne so reformiert werden, dass alternative Wissenssysteme systematisch integriert und koloniale Narrative dekonstruiert werden? Welche didaktischen Methoden können Lehrpersonen nutzen, um postkoloniale Ansätze nachhaltig zu integrieren? Welche Kompetenzen benötigen Lehrkräfte, um Wissen zu dekolonisieren, und wie lässt sich diese Kompetenzentwicklung in der Lehrer:innenausbildung verankern?

Diese Fragen verdeutlichen, dass eine Transformation nicht nur symbolisch, sondern auch auf der Ebene der Wissensproduktion erfolgen muss. Jede Fachrichtung trägt Verantwortung, kolonial geprägte Wissensstrukturen zu hinterfragen und alternative Perspektiven zu integrieren (vgl. Ngũgĩ 1986).

Fazit: Die Notwendigkeit eines tiefgehenden postkolonialen Lernens

Postkoloniales Lernen muss eine tiefgreifende Transformation der Wissensproduktion anstreben. Eine Dekolonisierung auf epistemischer Ebene bedeutet, die Dominanz westlicher Wissensstrukturen zu dekonstruieren, Narrative infrage und vermeintliche Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen sowie in einem darauf aufbauenden Schritt alternative Perspektiven zu integrieren. Es reicht nicht aus, die Erinnerungskultur zu verändern – es bedarf einer aktiven Transformation unserer Wissenssysteme, um die tief verankerten Spuren des Kolonialismus zu beseitigen. Es gilt, Raum für eine plurale Wissensproduktion zu schaffen. Dies erfordert sowohl institutionelle Veränderungen als auch persönliches Engagement, Sensibilisierung und ein Bewusstsein für die Problematiken und Herausforderungen. Lehrkräfte, Wissenschaftler:innen sowie Entscheidungsträger:innen müssen ihre eigenen Privilegien, Positionen und Vorurteile reflektieren und an der Dekolonisierung ihrer Praxis mitwirken. Dabei muss anerkannt werden, dass es bestehende Machtverhältnisse gibt, die es nicht einfach machen, vielfältige Stimmen gleichberechtigt zu berücksichtigen. Diese Machtstrukturen müssen aktiv hinterfragt und aufgebrochen werden.

 

1 Das Wort „weiß“ ist kursiv gesetzt, um zu betonen, dass es sich hierbei nicht um eine biologische oder neutrale Beschreibung handelt, sondern um eine sozialkonstruierte Kategorie. Die Hervorhebung soll die historische und racebezogene Dimension des Begriffs verdeutlichen, der im Kontext rassistischer Machtstrukturen verwendet wird, um bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu markieren und zu privilegieren.


Literaturverzeichnis

Bhambra, Gurminder K. (2005). Rethinking Modernity: Postcolonialism and the Sociological Imagination. Palgrave Macmillan.

Castro Varela, María do Mar (2020). „Einleitung: Postkoloniale Pädagogik?“ Tertium Comparationis. Journal für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft, 26(1), 1–8.

Chakrabarty, Dipesh (2008). Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton University Press.

Galastri, Leandro (2018). Social classes and subaltern groups: Theoretical distinction and political application. In: Capital & Class, 42(1), S. 43-62.

Guha, Ranajit (1982). Subaltern Studies: Writings on South Asian History and Society. Oxford University Press.

Hall, Stuart (1992). “The West and the Rest: Discourse and Power.” In Formations of Modernity, edited by Stuart Hall and Bram Gieben, 275–331. Cambridge: Polity Press.

Kreienbaum, Jonas (2021). Koloniale Ursprünge? Zur Debatte um mögliche Wege von Windhuk nach Auschwitz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 71(40-41), S. 14-19.
Loomba, Ania (2005). Colonialism/Postcolonialism. Routledge.

Mbembe, Achille (2015). Decolonizing Knowledge and the Question of the Archive. Wits Institute for Social and Economic Research (WISER).

Mezirow, Jack (1990). Fostering Critical Reflection in Adulthood: A Guide to Transformative and Emancipatory Learning. Jossey-Bass.
Ngũgĩ wa Thiong'o (1986). Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature. James Currey.

Said, Edward W. (1978). Orientalism. Pantheon Books.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1988). Can the Subaltern Speak?. In: Nelson, Cary und Grossberg, Lawrence (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. University of Illinois Press.

Steele, Shelby (2006). White Guilt: How Blacks and Whites Together Destroyed the Promise of the Civil Rights Era. HarperCollins.

Zimmerer, Jürgen (2015). Kulturgut aus der Kolonialzeit – ein schwieriges Erbe?. In: Museumskunde, Band 80, Heft 2, S. 22–27.

Zimmerer, Jürgen (2023). Erinnerungskämpfe: Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Reclam Verlag.

Artikel kommentieren

Kommentare sind nach einer redaktionellen Prüfung öffentlich sichtbar.