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Massenanfälle von Verletzten: Wie trainiert und analysiert man den Umgang mit Großschadenslagen?
Prof. Dr. Boris Tolg, Department Medizintechnik, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Im Rahmen des Claussen-Simon-Wettbewerbs für Hochschulen 2019 wurde das Projekt „MANV-Analyse“ des Departments Medizintechnik der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) als eines von drei Gewinner:innenprojekten ausgezeichnet. Projektleiter Prof. Dr. Boris Tolg berichtet hier, wie im Herbst 2021 endlich, verzögert durch die Corona-Pandemie, drei sogenannte „MANV-Übungen“ durchgeführt werden konnten – Übungen zu Massenanfällen von Verletzten.
Bei einem Massenanfall von Verletzten übersteigt die Anzahl der betroffenen Personen die Kapazitäten der vor Ort verfügbaren Einsatzkräfte, sodass weitere Kräfte überregional angefordert werden müssen. In einer solchen Situation müssen Rettungskräfte zusammenarbeiten, die normalerweise nicht gemeinsam trainieren und die möglicherweise sogar über unterschiedliche Standards verfügen. Gleichzeitig ist die Situation so unübersichtlich und akut, dass ein koordiniertes und schnelles Vorgehen von besonderer Bedeutung ist. Um diese Lagen zu trainieren, ist ein großer Logistik- und Ressourcenaufwand nötig, viele Schauspieler:innen, medizinisches Personal, Fahrzeuge und Platz werden benötigt. Aus diesem Grund finden diese Übungen nur selten statt. Um sie bewerten und den beteiligten Einsatzkräften ein qualifiziertes Feedback geben zu können, ist es wichtig, dass während der Übungen möglichst viele Informationen gesammelt und diese schnell ausgewertet werden können. Gleichzeitig muss die Übungskünstlichkeit jedoch so gering wie möglich gehalten werden, sodass die Zahl der Beobachter:innen möglichst klein sein sollte.
Nach rund 15 Monaten haben sich die Vorbereitungen auf unser Forschungsvorhaben zu effizienten, gut evaluierbaren MANV-Übungen bezahlt gemacht. Zusammen mit mehreren Projektpartnern konnten wir schließlich drei Übungen mit unseren Methoden begleiten und auswerten. Die Studierenden hatten dadurch die Möglichkeit, ihr erlerntes Wissen und die Methodenkompetenz praktisch zu erproben und eigenständig neue Ansätze zur Optimierung dieser Datenerhebung einzubringen.
MANV-Übung: Landkreis Harburg
Die Planungen der ersten Übung begannen im zweiten Quartal 2021. Bei regelmäßigen Treffen definierten die Beteiligten der Feuerwehr, Polizei, des Deutschen Roten Kreuzes und der HAW die groben Ziele der einzelnen Parteien und richteten das bereits zuvor im Zuge der Projektarbeit entwickelte Übungsszenario daran aus. Am 1. Oktober 2021 trafen sich 14 Studierende der Studiengänge Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr an der HAW zur Übungsvorbereitung. Die Beobachter:innen wurden in das System „RescueWave“ eingewiesen, das für die Bewertung der Patient:innendaten erprobt werden sollte, und alle erhielten eine letzte Unterweisung in das Szenario und die Aufteilung der Positionen vor Ort.
Punkt 10:00 Uhr am 2. Oktober 2021 war es dann so weit – das Szenario: eine Explosion während des Chemieunterrichts in einer 12. Klasse. Innerhalb weniger Minuten trafen die ersten Einsatzkräfte ein, um die Patient:innen zu versorgen und schnellstmöglich in ein Krankenhaus zu transportieren. Die Studierenden des MANV-Analyse-Projekts legten als Beobachter:innen ihr Augenmerk dabei auf die Strukturen, den Aufbau und den Zeitverlauf der Übung. Als Gütekriterium wurde hierbei der Zeitansatz zum Auffinden und Klassifizieren der schwer verletzten Patienten herangezogen. Ziel des Rettungsdienstes ist es, diese durch Triage schnellstmöglich unter allen anderen Patient:innen zu identifizieren, um einen raschen Transport in eine geeignete Zielklinik für eine adäquate medizinische Versorgung zu ermöglichen. Durch unser sogenanntes Übungsdokumentationsbuch werden alle Handlungen und Probleme schriftlich erfasst und durch die Kombination mit den GPS-Loggern, die alle beteiligten Rettungskräfte und Simulationspatient:innen bei sich tragen, sowie einem Fragebogen zur einsatztaktischen Bewertung von MANV-Lagen, valide unterstützt. Um 12:08 Uhr wurde mit dem Abtransport des letzten Patienten die Übung beendet.
MANV-Übung: Schloß Holte-Stukenbrock
Nur eine Woche später wurden wir zu einer großen MANV-Übung nach Schloß Holte Stukenbrock eingeladen, eine Stadt im Nordosten Nordrhein-Westfalens in der Nähe von Bielefeld. Der Tag der Übung begann schon um 6:45 Uhr mit der Ausgabe der GPS-Logger an alle Einsatzkräfte und Simulationspatient:innen. Anders als in Harburg standen vier einzelne und eine große Übung am Ende des Tages auf dem Programm. Die Einsatzkräfte wurden deshalb in vier Gruppen unterteilt und durchliefen im Rotationsprinzip die Übungsstationen. Geübt wurden zunächst ein Verkehrsunfall, ein realer Brand, ein Chlorgasaustritt und eine Messerstecherei. Dann folgte das große Finale: Wir präparierten einen Patienten mit einer selbst entwickelten USBV-Attrappe (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungsattrappe) und brachten uns in eine gute Position, um die große Übung aller Gruppen zu beobachten. Geprobt wurde ein Anschlag an einer Bushaltestelle mit einer Geiselnahme. Um 17:00 Uhr begann die Übung mit einer Explosion im Bus. Die Studierenden verfolgten das Geschehen und erfassten jede Auffälligkeit. Um 20:00 Uhr wurde die Übung beendet. Die ersten Patient:innen waren bis dahin bereits abtransportiert und eine Führungsorganisation hatte sich etabliert. Für uns hieß es dann: alle GPS-Logger einsammeln und die Übungsmaterialien sorgfältig verstauen.
ARMIHN: Massenanfall von Erkrankten
Das letzte halbe Jahr konnten wir zusätzlich das Projekt ARMIHN (Adaptives Resilienz Management im Hafen) mit unserer digitalen Stabsübungsplattform unterstützen. Die Plattform wurde im Wesentlichen durch frei verfügbare Open Source-Software zusammengestellt. Die Basis bilden eine NextCloud für den Dokumentenaustausch und Videokonferenzsysteme für die verbale Kommunikation. Die Plattform wurde zusätzlich von mir und Prof. Dr. Karsten Loer um individuelle Plugins erweitert.
Mitte Oktober 2021 stand eine hybride Übung gemeinsam mit dem Hafenärztlichen Dienst, dem Havariekommando, der Feuerwehr und weiteren Beteiligten in Hamburg an. Auf einem Schiff kam es in dieser Übung zu einem Ausbruch einer Krankheit, wodurch eine Triage bereits an Bord nötig war. Wir starteten mit dem Abseilen des Havariekommandos von einem Hubschrauber auf ein fiktives Schiff, das durch ein Hafenterminal simuliert wurde. Die Studierenden bildeten hierbei die Schnittstelle für alle in der virtuellen Stabsübung befindlichen Einsatzkräfte. Durch einen Livestream war eine lückenlose Beobachtung von außen möglich. Bei dieser Übung lag unser Fokus weniger auf der Auswertung der Übung an sich; vielmehr kümmerten wir uns um den reibungslosen Ablauf. Eingesetzt wurden die Studierenden als Fachpersonal für die Übungsplattform, beratende Unterstützer:innen im digitalen Austauschformat und als Sichtungspersonal.
Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten durch die Corona-Pandemie konnte den Studierenden letztendlich doch die Möglichkeit gegeben werden, ihr theoretisches Wissen anzuwenden und ihre Projektarbeit zu erproben. Wir nahmen einige Erkenntnisse aus den Übungen sowohl für uns als auch für die Einsatzkräfte mit. So gab es beispielsweise vor den Übungen ein sehr großes Zeitfenster, das für das Ausfüllen von Unterlagen und Einverständniserklärungen benötigt wurde. Dies führte allerdings zu einer langen Standzeit der Einsatzkräfte und der Patientendarsteller:innen. Vor zukünftigen Übungen muss sich somit die Ausgabe der GPS-Logger und der Fragebögen vereinfachen. Hier arbeiten die Studierenden bereits an einer Lösung. Auch zeigte sich, dass an der Vorbereitung von Patient:innenmustern gearbeitet werden muss. Die von uns gewählten Verletzungsmuster konnten nicht immer der entsprechenden Sichtungskategorie zugeordnet werden. Dies ist möglicherweise auf die Häufung nicht traumatischer offener Verletzungen zurückzuführen, die in der Visualisierung schwer darzustellen sind. Hier müssen wir für die kommenden Übungen einige Anpassungen vornehmen.
Außerdem konnten wir Zeitabläufe ableiten, die für die Interpretation des Einsatzes nützlich waren. Gemeinsam mit den beteiligten Führungskräften diskutierten wir Auffälligkeiten, die sich zum Teil durch organisatorische Artefakte erklären ließen. Ein Feedbackprozess an die Einsatzkräfte konnte daraufhin eingeleitet werden. Die Studierenden stießen somit durch ihre Auswertung einen kritischen Denkprozess an.
Aktuell laufen die Vorbereitungen für weitere Übungen an. Dazu zählen neben den Anpassungen auch die Absprachen mit den verantwortlichen Einsatzkräften. Die im Herbst 2021 durchgeführten Übungen waren somit ein voller Erfolg für das gesamte MANV-Analyse-Projekt. Das Projekt hat mittlerweile einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, sodass auch Anfragen und Interessensbekundungen ohne unser Zutun eintreffen. Jetzt heißt es, die Erfahrungen weiter auszubauen und weitere Daten für eine Bewertungsgrundlage zu sammeln.
Foto: Katrin Hollensteiner
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