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Gaben: Die dunkle Materie der Ökonomie?
Jean Müßgens, Dissertation Plus-Stipendiat
Denken wir an Gaben, haben wir unweigerlich Beziehungen der Gegenseitigkeit im Kopf, die vorwiegend „Geste[n] des Mitgefühls“ und „[der] Großzügigkeit ohne Berechnung“ einschließen (Priddat 2016: 112, Bezug nehmend auf Hénaff 2014: 262). Mit der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuchperspektive – in der die Menschen darauf konditioniert sind, individuell unabhängig voneinander ihren eigenen Nutzen zu maximieren – scheint dieses prosoziale Spektrum menschlichen Verhaltens zunächst inkongruent zu sein. Menschliches Verhalten, das nicht auf Eigennützigkeit konditioniert ist, verortet man gewöhnlich in der Soziologie oder der praktischen Philosophie, wenngleich wir es innerhalb der Ökonomie schon immer mit Leistungsvermittlungen und -zuteilungen zu tun haben, die dieser Heuristik widersprechen (Priddat 2016). Angefangen in Familien, wo Leistungen erbracht werden, ohne dass hier zwangsläufig gegengerechnet wird und man versucht seinen eigenen Nutzen zu maximieren (ebd.). Man denke beispielsweise an die geleistete Hausarbeit bis zu der Pflege von Angehörigen, die nicht in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auftaucht. Aber auch wenn wissenschaftliche Forschung durch Stiftungen unterstützt wird, werden Leistungen bezogen, bei denen nicht explizit gegengerechnet wird. Vielmehr wird darauf vertraut, dass die Investitionen einen fruchtbaren Impuls in die Gesellschaft zurückgeben.
Worauf diese Beispiele bereits hindeuten, ist, dass es neben der rein privatwirtschaftlichen Seite auch eine Form der gesellschaftlichen Wertschöpfung gibt. Sie darf in unserer Perspektive auf die Ökonomie nicht einfach vernachlässigt werden, denn tatsächlich ist ein tiefgreifenderes Verständnis vom Zwischenverhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend, um über unsere Alltagserfahrungen hinaus auch die Funktionszusammenhänge und die Wertschöpfungsprozesse der digitalen Ökonomie besser verstehen und einordnen zu können. Dabei stellt sich allerdings folgende Frage: Wie ist es zu erklären, dass Gesten des Gebens und Nehmens vom theoretischen Kalkül der Ökonomie weitgehend ausgeblendet werden, obwohl die Steuerungsarchitektur einer modernen und vernetzten Wirtschaftsordnung von diesen prosozialen Interaktionszusammenhängen systematisch durchzogen ist?
In dieser Fragestellung klingt bereits an, dass die Ökonomie die Gabe bisher wie eine dunkle Materie behandelt. Im Horizontbewusstsein der ökonomischen Kosmologie ist sie zwar stets präsent, aber ihr Wert ist für die Funktionalität und Stabilität ökonomischer Leistungsverhältnisse scheinbar nicht ergründbar. Eine Konfrontation der heuristischen Vorannahmen der Ökonomie durch das ethno-anthropologische Tatsachenmaterial kann hier allerdings Abhilfe schaffen (vgl. Därmann 2005).
Sofern man ein wenig bewandert mit der ökonomischen Theorie ist, weiß man, dass die Ökonomie vom Akteurstypus des homo oeconomicus ausgeht, der, weil er lediglich seinen Eigennutzen maximiert, ausschließlich opportunistisch, aber im strengen Sinne nicht kooperativ handeln kann (Müßgens/Priddat 2022). Wir haben es hier mit einer Vorstellung menschlichen Verhaltens zu tun, die ihre Wurzel in der archaischen „Theorieszene“ (Därmann 2013; vgl. Därmann 2018/2009) des Hobbes‘schen Naturzustands hat. Konkret folgt diese einer Heuristik, deren basale Grundannahme so aufgestellt ist: Da der Mensch des Menschen Wolf ist, erschöpft sich das Zwischenverhältnis der Akteure im wechselseitigen Bestreben, Macht über den jeweils anderen zu gewinnen (Schwaabe 2010). Das heißt: Im Kampf um knappe Ressourcen geht es um die Unterwerfung des Gegenübers, um das eigene Überleben zu sichern (ebd. ff.). Da vor der Hintergrundfolie dieses vitalen Konflikts keine Grenzen zwischen einander gegenüberstehenden Interessen bestehen und in Folge die Anarchie als soziale Ordnungsform versagt, braucht es eine Lösung für diese Problematik. Der Vorschlag der Ökonomie lautet hier: In Anerkennung, dass sich die individuelle Wohlfahrt mehren lässt, wenn nicht alle Energie für Eroberungs- und Verteidigungsmaßnahmen aufgewendet werden muss, einigen sich die Akteure auf wechselseitig annehmbare Grenzen bei der Verfolgung ihrer individuellen Ziele (Schwaabe 2010). Konkret bedeutet das: Sie geben sich aus ihrem wohldefinierten Eigeninteresse eine Verfassung, innerhalb derer sie ihre ökonomischen Beziehungsverhältnisse friedvoll über Verträge abwickeln können. Entsprechend lautet der Wahlspruch der Ökonomie, die sich nun als eine science of contract versteht: „All economic exchange [can] be efficiently organized by contract“ (Williamson 1981: 554). Verträge gelten vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Menschen einander stets übervorteilen und täuschen wollen, wenn sich ihnen dazu die Gelegenheit bietet, als Instanzen um sich mittels Sicherheitsvorkehrungen vor dem Risiko der opportunistischen Verhaltenspräferenz ihres Gegenübers schützen zu können.
So elegant und realitätsnah diese Lösung auf theoretisch-konzeptioneller Ebene anmutet, so verhängnisvoll erweist sich diese heute im Hinblick auf das Vermögen die kreative Prozessemergenz der Ökonomie in ihrer gesellschaftlichen Wertschöpfungsdynamik konzeptionell fokussieren und erfassen zu können. Da eine „materialistische Anthropologie“ (vgl. Schwaabe 2010: 134) im Vertragsbegriff der Ökonomie fortbesteht, werden Interaktionsprozesse im wirtschaftlichen Verkehrsprozess lediglich unter folgendem Gesichtspunkt betrachtet: Beobachte den anderen, wie er dich hintergehen will (Müßgens/Priddat 2022). Dass Menschen nicht nur als opportunistische Nutzenmaximierer agieren, sondern auch als gebende Wesen einander etwas zugestehen können, lässt man hier durch die bewusste Ausblendung der ethno-anthropologischen Tatsachen außen vor (Müßgens 2024b).
In Folge verstellt eine rechtspositivistische Auffassung des Vertrags den Blick darauf, dass zunächst nicht einfach streng kodifizierte Verträge, sondern „relationale Gewährleistungsoperatoren“ (Priddat 2015: 21) Ausdruck und Produzent der sozialen Ordnung sind (Müßgens 2024b). Evident wird dieser Gedanke erst entlang des Phänomens der Gabenökonomie: Die Erkenntnisse der Ethnologie und Anthropologie deuten darauf hin, dass soziale Ordnungen ihren kreativen Impetus aus handlungsstrukturierenden Umgangsformen beziehen, die weder vertraglich kodifiziert noch durch rechtschaffende, konstruktivistische Instanzen hervorgebracht wurden (genauer hierzu Müßgens 2024b). Im Austausch von Gaben kommt – dem streng kodifizierten Recht vorausgehend – ein zivilisationsstiftender Akt zum Tragen, der erst unter eingehender Betrachtung der ethno-anthropologischen Tatsachen an die Oberfläche tritt (genauer hierzu Müßgens 2024b).
So konnte vor allem der Ethnologe Marcel Mauss (1966/1925) entlang seiner Studien der archaischen Gesellschaften Nordamerikas und Melanesiens nachzeichnen, dass gabenökonomische Interaktionszyklen des Gebens, Annehmens und Erwiderns vorrangig der Absicht dienten, soziale Beziehungen zu vertiefen und zu festigen. Erkennbar wird das an der verzögerten Reziprozität des Gabentauschs. Nicht ein „Ich gebe, damit du gibst, [sondern ein] Ich gebe und du mögest (…) [zurück]geben“ (Ortmann 2023: 123) steht im Vordergrund der Interaktion. Somit steht hier interessanterweise mit der Annahme einer Gabe nicht der reine Gütertransfer, sondern die Akzeptanz einer Verpflichtung im Vordergrund. Es wird akzeptiert, zu einem späteren Zeitpunkt für Ausgleich zu sorgen; ungeachtet der Tatsache, dass keine formelle Pflicht zur Gegengabe besteht, die vertraglich festgeschrieben ist. Aus Sicht der Standardökonomie, die in Zugeständnissen eine Gelegenheit zur Vorteilsnahme sieht, dürften sich diese Interaktionszyklen eigentlich gar nicht stabilisieren. Tatsächlich besteht aber auf informaler Ebene ein gewisser „Zwang zur [Gegengabe]“ (Därmann 2010: 109), der diesen Zyklus aufrechterhält. Woher kommt dieser Zwang?
„Wer [etwas dem anderen zugesteht oder gibt, setzt eine Norm], an deren Ende eine Schuld steht“ (Enkelmann 2010: 20), was – wie die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann herausgearbeitet hat – in zahlreichen „Sprechakten der Dankbarkeit und Beschämung“ (Därmann 2010: 25) unmissverständlich zum Ausdruck kommt: „Das war doch nicht nötig! – Das habe ich nicht verdient? – Wie kann ich das wiedergutmachen?“ (ebd.). Hierin deutet sich bereits der Zweck des Gebens an: Wenn man sich einander Dinge gibt und zurückgibt, so deshalb, weil man sich „Höflichkeit und Respekt [erweist]“ (Frick 2021: 89). Kurzum: Man möchte sich einer Beziehung als würdig erweisen (Därmann 2010). In Konsequenz können wir daran erkennen, dass es beim Austausch von Gaben zunächst nicht um Profit, sondern vielmehr um das Knüpfen eines sozialen Bands geht. Über die Zeit kann dieser Vorgang ein Netzwerk aus sozialen Verpflichtungen zu erkennen geben (Bauer 2011), das sich in first place nicht durch Verträge, sondern vor allem durch relationale, quasi-stabile Gewährleistungsoperatoren, wie Reputation, Vertrauen und Reziprozität stabilisiert (vgl. Kabalak/Priddat 2017: 21).
Ein prominentes Beispiel, wie gabenökonomische Interaktionszusammenhänge einen solchen zivilisationsstiftenden Nexus schaffen und dabei ein soziales Netz stabilisieren, hat der Ethnologe Malinowski (1966/1922) anhand des Kula-Rings genauer herausarbeiten können. In seinem Werk Argonauten des westlichen Pazifiks hat Malinowski geschildert, wie die Menschen der in der Salomonensee gelegenen Trobriand-Inseln riskante Reisen über das Meer unternahmen, um über den Austausch von Armbändern und Halsketten freundliche Beziehungen zu den Nachbarinseln zu unterhalten. Hieran wird klar, dass entgegen einem rechtspositivistischen Verständnis nicht der Vertrag, sondern „die Gabe (…) Ausdruck und Produzent von [sozialer] Ordnung [ist]“ (Wieland 1989: 56; vgl. Graeber/Wengrow 2022).
Für einen Außenstehenden, der ökonomische Leistungsverhältnisse vor der Hintergrundfolie eines archaischen Urzustands Hobbes‘scher Prägung rekonstruiert, ergeben sich allerdings Probleme, diesen Gedanken anzuerkennen. Eingeschlossen in eine Theoriearchitektur, die der Komplexität sozialer Phänomene nur bedingt gerecht werden kann, ist es nicht möglich, die Ökonomie jenseits ethno-anthropologischer Generalisierungen zu rekonstruieren, in der Gesten des Gebens und Nehmens von systematischer Natur sind. Eine unmittelbare Folge daraus ist, dass sich dadurch, wie eingangs angedeutet, vor allem die spontane, kreativitätsdisponierte Ordnungsstruktur der digitalen Ökonomie nicht mehr problemlos erklären lässt (genauer hierzu Müßgens 2024b).
Im Rahmen einer vernetzten digitalen Wirtschaftsordnung, die wir auch als eine Netzwerkökonomie beschreiben, können wir jedoch erkennen, dass auch hier die Gabe Ausdruck und Produzent der sozialen Ordnung ist. So lässt sich beobachten, dass die netzwerkökonomischen Wertschöpfungsprozesse, die vorwiegend auf Wissen und Kommunikation beruhen, auf einer hochdimensionierten Gabenökonomie fußen. Ratschläge in Internetforen, Einträge bei Wikipedia, Fotos, Videos und Statusmeldungen bei Instagram, LinkedIn, TikTok oder YouTube stellen Inhalte dar, deren Erstellung sich primär nicht über monetäre Zahlungen koordinieren (Dobusch 2023: 21 ff.). Ihre Herstellung wird vor allem durch gesellschaftlich beobachtbare Anerkennungsprämien wie „Danksagungen, Quellenzitate und (…) wertende Kommentare“ angetrieben (Hutter 2012: 10; Priddat 2014). Vorrangig lassen sie sich als immaterielle Gegengaben interpretieren, die im Cyber Space nun nicht mehr materieller, sondern immaterieller Natur sind (vgl. Dobusch 2023).
Für sich genommen ist dieses Phänomen – wenn man etwa die Governance der digitalen Aufmerksamkeitsmärkte tiefgehender operationalisieren will – bereits hochinteressant (Müßgens 2024a, 2024b), doch bewegen wir uns damit noch an der Oberfläche. Anders als man es abseits dieses eingängigen Beispiels nämlich vermuten würde, reicht das transmarktliche Phänomen der Gabe in der digitalen Ökonomie noch wesentlich tiefer. So basiert die technische Infrastruktur, auf der die soeben angesprochenen Wertschöpfungsprozesse überhaupt vollzogen werden können, ebenfalls auf gabenökonomischen Leistungszusammenhängen.
Dass sich beispielsweise beim Aufruf dynamischer Internetpräsentationen wie Blogs, Nachrichtenticker und Social-Media-Foren Inhalte an die individuellen Anfragen und Bedürfnisse der Nutzer anpassen, wird zu einem Großteil durch Software ermöglicht, die auf freiwilliger Arbeit von Expertennetzwerken beruht. Es sind vielfach Open-Source-Software Initiativen, die durch ihre kontinuierliche Arbeit an Projekten zur Funktionstüchtigkeit des kommerziellen Internets beitragen (genauer hierzu Müßgens 2024b).
Ihre gabenökonomische Dimension erschließt sich hier durch ihre „ökonomisch ungewöhnliche Produktions- und Konsumweise“, wie es Priddat und Kabalak (2006: 109) herausgearbeitet haben. Erstens: Open-Source-Initiativen öffnen sich für beliebige neue Mitarbeiter. Jeder kann die operativen Anweisungen der Software wie Funktionen, Beschreibungen und Definitionen einsehen und beliebig oft modifizieren. Zweitens: Ihr Konsumgut bedient Konsumenten, die nicht zahlen, wie beispielsweise große Technologiekonzerne (ebd). Das scheint dem zentralen ökonomischen Steuerungsinstrument zuwiderzulaufen, was wir eingangs behandelt haben: Wir haben es mit einem Leistungsaustausch zu tun, der sich entgegen dem Wahlspruch der Ökonomie nicht entlang von Vertragsverhältnissen vollzieht. Weder existieren Arbeitsverträge, noch sind die Eigentums- bzw. Nutzungsrechte an der erstellten Software geklärt und vertraglich abgesichert. Für klassisch arbeitende Ökonomen ergibt sich daraus unweigerlich folgende Frage: Wie ist es zu erklären, dass man sich trotz der Annahme, dass ausbeuterisches Verhalten dominiert, am Fortbestand eines öffentlich zugänglichen Guts freiwillig beteiligt (vgl. Lerner/Tirole 2002)?
Aktuelle Forschungsergebnisse sehen u.a. in Elinor Ostroms Erkenntnissen zur Verwaltung von Gemeineigentümern eine mögliche Erklärung. So konnte Ostrom am Beispiel überlebenswichtiger, natürlicher Ressourcen wie Weideland, Fischbestände der Meere etc. zeigen, dass deren Bestand noch dort gesichert wird, wo die Ökonomie eigentlich ihre Erosion prognostiziert (Goldschmidt/Habisch 2010: Sp. 3). Jenseits formeller, streng kodifizierter Vertragsarrangements leisteten informelle Institutionen eine Reduktion von „Maximierungs- und Absicherungsanforderungen“ (Priddat 2009: 349). Mit Blick auf das Phänomen der Open-Source-Initiativen hat man das zum Anlass genommen, Software, die frei zur Verfügung steht, als digitale Gemeingüter zu beschreiben.
Allerdings lässt diese Perspektive einen entscheidenden Punkt außer Acht. Was Open-Source-Software von den Gemeingütern unterscheidet, die Ostrom untersucht hat, ist, dass es sich nicht um Ressourcen handelt, die schon vorher existent gewesen sind und lediglich verwaltet werden müssen. Bei digitalen Gemeingütern, wie quelloffener Software, haben wir es mit Ressourcen zu tun, die erst aus der Interaktionsemergenz aller Beteiligten hervorgehen: Konkret haben wir es mit handfesten Wertschöpfungsbeiträgen aus nicht bepreisten Kooperationsüberschüssen zu tun, von denen nicht klar ist, was diese Produktionszusammenhänge antreibt und zusammenhält (Müßgens 2024b).
Eine mögliche Erklärung, die hier eng mit dem Begriff der Gabe verbunden ist, ist das Bedürfnis nach sozialer Resonanz. Da wir es bei Open-Source-Projekten mit Arbeitszusammenhängen zu tun haben, die sich in einem Fachgebiet bewegen, das der Allgemeinheit nicht ohne Weiteres vermittelbar ist, bieten Open-Source-Initiativen für Softwareentwickler Austauschmöglichkeiten. Das ist insbesondere für jene Entwickler attraktiv, die ihre Tätigkeit als identitätsstiftend empfinden. Innerhalb der Initiativen können sie durch das freigebige Teilen ihrer Expertise an Anerkennung und Reputation gewinnen, wodurch ein intrinsischer Anreiz entsteht, auch Arbeit zu leisten, die nicht unmittelbar entlohnt wird (Müßgens 2024b).
Es mag auf den ersten Blick verwunderlich klingen, aber was sich darin zeigt, ist, dass es vorrangig – bei allen Schattenseiten, die an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden können – die gestiegenen Identitätsansprüche sind, die bis zu einem gewissen Punkt die Entwicklungsdynamik der digitalen Ökonomie antreiben. Wenn Wertschöpfungsprozesse auf Kommunikation und Wissen beruhen, sind sie alle mehr oder weniger von einer Andersartigkeit her motiviert. Das heißt, die „konstitutive Dimension des Ichs“ (Pulcini 2004: 207) resultiert aus möglichst kreativen Offerten, die man anderen in den Netzwerken unterbreitet, um über den damit einhergehenden Konsum sozialer Anerkennung als Singularität anerkannt zu werden (vgl. Reckwitz 2022/2019). Das gilt sowohl für die Mitglieder der social networks – von denen einige wenige zu Influencern aufsteigen – als auch, wie wir soeben gesehen haben, für die Projektgemeinschaften der Open-Source-Communities.
Das Gabenphänomen kann diese Prozesse nicht nur in ihrer sozialen Tiefenstruktur offenlegen, es kann uns sogar – wenn wir hier die strategische Ökonomisierung durch privatwirtschaftliche Akteure systematisch mitdenken – die spontane Ordnung der digitalen Märkte vor Augen führen (genauer Müßgens 2024a, 2024b).
Ein plastischer Fall zeigt sich beispielsweise an Googles strategischem Einsatz von Open-Source-Software auf dem Markt für Smartphones. Aus Bedenken, dass Apple als Dominator auf dem Smartphone-Markt dafür sorgen könnte, dass Google seine Dienste nur gegen Bezahlung auf dem iPhone anbieten könnte, entschied man sich, Android zu einem Open-Source-Betriebssystem für Mobiltelefone weiterzuentwickeln (vgl. Elder-Vass 2018: 257). Indem man Wert darauf legte, dass sich das Betriebssystem hardwareunabhängig einsetzen und individuell konfigurieren lässt, kam eine Wettbewerbsdynamik in Gang, die Apple als Hardwarehersteller herausforderte. Samsung, Huawei und Xiaomi konnten sich unter Verwendung des Android-Betriebssystems im Smartphone-Markt erfolgreich positionieren und Apple Marktanteile abtrotzen. Technologisch vergleichbare Produkte konnten zu einem erschwinglicheren Preis und mit einem größeren Angebot an Apps am Markt offeriert werden. Smartphones wurden durch diese Entwicklung zu einem Massenartikel, wodurch es für Apple zunehmend schwieriger wurde, sich allein durch Verbesserungen des iPhones von der Konkurrenz abzusetzen. Smartphones wurden zu einem Massenartikel (zur genaueren Ausführung Müßgens 2024b).
Ohne ein tiefgreifenderes Verständnis der gabenökonomischen „Hintergrundstrukturen“ (Reckwitz 2022/2019: 200) in der Netzwerkökonomie sind solche Ereignisse nur oberflächlich rekonstruierbar (Müßgens 2024b). Deshalb schließen wir mit folgendem Resümee: Das Moment der Gabe erweckt lediglich den Anschein, eine dunkle Materie der ökonomischen Kosmologie zu sein. Tatsächlich ist man bei der Untersuchung ihrer Rolle wesentlich weiter (Hutter/Priddat 2023; Priddat 2016; Hutter 2012; Ortmann 2004a, 2004b; Müßgens 2024b; Müßgens/Priddat 2022). Wie wir gesehen haben, können Gaben über ihre zivilisationsstiftende, stabilisierende Funktion hinaus auch über die Reichweite der Exploration, Erprobung und Innovierung der ökonomischen Dimension bestimmen (Müßgens 2024b). Um das allerdings auf theoretisch/konzeptioneller Ebene vollständig sichtbar machen zu können, benötigen wir eine systematische Revision der Ökonomie.
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