#Auslandsaufenthalt #Bildungsgerechtigkeit #Community #Wissenschaft
„Woher kommst du?“
Anh-Quoc Doan, Stipendiat bei Horizonte
Im vergangenen Sommer hatte ich das Glück, durch ein Stipendium der Fulbright-Stiftung für einen Monat an der Trinity University in San Antonio, Texas, zu studieren. Ich war erstmals in Amerika und sammelte eindrucksvolle Erlebnisse, die all meinem „Wissen“ über die amerikanische Kultur widersprachen, das durch Social Media und die deutsch-amerikanische Freundschaftsnähe generiert und geprägt worden war.
Was unsere Gesellschaft immer mehr zu vergessen scheint: Zu wissen ist das eine. Wissen durch Erfahrungen, Erlebnisse und physische Anwesenheit ist das andere.
Unsere Gesellschaft scheint viel über Missstände zu wissen. Doch so viel zu wissen, ermüdet scheinbar und wird letztlich zu einer leeren Hülle, wenn man nicht dahin geht, wo die Missstände stattfinden, und sie erlebt.
Um auf meinen Aufenthalt in Amerika zurückzukommen: Unter all den Erfahrungen ragt eine besonders hervor, die meine persönlich zwiegespaltene Beziehung zu Deutschland nun einmal mehr betont und die mich für eine lange Zeit sehr intensiv beschäftigte. Ich hatte viele Begegnungen mit amerikanischen Studierenden, und allzu oft war die zweite oder dritte Frage, die ich stellte: „Woher kommst du?“ oder „Was ist dein Migrationshintergrund?“ Ich stelle diese Fragen, weil ich sie aus Deutschland gewohnt war, wo sie mir als Deutscher mit vietnamesischem(?) Migrationshintergrund selbst so oft gestellt wurden. Ein Großteil derer, denen ich die Frage stellte, verstand dies nicht. Oder ich bekam oftmals die Antwort: „I’m American“.
Und bevor sich in mir ein „aber“ regte, realisierte ich plötzlich die Folgen, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, wo die Herkunft, das „Wir“ und „die Anderen“ eine viel zu große Rolle spielt. Ich realisierte, wie ich dieselben Mechanismen, die ich selbst erlebt habe, auf diejenigen projizierte, die „anders“ aussahen und nicht meiner Vorstellung eines „weißen Amerikaners“ entsprachen. Ein Großteil, denen ich begegnete, kannte diese Fragestellung nicht in dieser Dimension, wie ich sie immer wieder in Deutschland als virulent erlebt habe. Von den Gefragten aller Hautfarbe und Herkünften stets zu hören „I’m American“, löste ein Gefühl in mir aus, von dem ich ein wenig überfordert war und nicht wusste, wie ich es einordnen sollte.
Ich fand Gefallen an der Tatsache zu erleben, dass ihre Narrative scheinbar in eine (national) eindeutige Identifikation und Herkunft eingebettet sind. Hierzulande muss man sich scheinbar für eine Seite entscheiden, oder man ist „Deutscher, aber …“. Oder man ist deutsch-vietnamesisch, deutsch-türkisch usw. Es war eine völlig neue Erfahrung für mich, dies zu erleben und dennoch war ich sehr verwirrt darüber, welche Gefühle diese andere Haltung in mir auslöste.
Nämlich eine gewisse Sehnsucht nach einer eindeutigen Klärung meiner Identität: Ruhe soll einkehren. Das Deutschsein will ich nicht mehr rechtfertigen. Ich will mich nicht für meinen Bildungsstand rechtfertigen. Ich will mich auch nicht für meine scheinbar guten Deutschkenntnisse rechtfertigen. Dabei möchte ich stets zu verstehen geben, dass ich den institutionellen Rassismus, dem viele Bürger/-innen, insbesondere hispanischer Herkunft oder Afroamerikaner/-innen, in den USA ausgesetzt sind, durchaus sehe und deutlich wahrnehme. Mir geht es vielmehr darum, dass das „Anderssein“ in vergleichender Perspektive aus einer amerikanischen nationalen Perspektive heraus auf einer anderen Ebene behandelt wird als hier in Deutschland.
Ich spreche Deutsch, ich träume Deutsch, ich bin größtenteils deutsch sozialisiert. Aber zu sagen, „Ich bin Deutscher“ ist noch lange keine Aussage, die ich mit Selbstbewusstsein aussprechen könnte. Nun könnte man anführen, dass es eine aktive Entscheidung sei, sich als „Deutscher“ zu bezeichnen. Nur ist es nicht so einfach, wie man denkt, und ich habe es mir gewiss nicht ausgesucht, mich komisch dabei zu fühlen, wenn ich sagen würde, ich sei Deutscher. Denn genau auf diesen Satz hin habe ich all zu oft den Spiegel vorgehalten bekommen: mit einem großen „Aber“. Mir ist klar, dass sich die Historie und die Einwanderungsgeschichte beider Kulturen, der deutschen und der US-amerikanischen, unterscheiden. Dennoch sollten wir es uns nicht in dieser scheinbaren Pfadabhängigkeit gemütlich machen, sondern stattdessen versuchen, Missstände anzuerkennen und sie umzuwandeln.
Wieso ist die Frage nach der Herkunft so problematisch?
Vorneweg sei gesagt: Man könnte nun auf die Straßen gehen und eine Umfrage starten und Menschen mit Migrationsgeschichte befragen. Ich schätze, dass die allermeisten die Frage nach der Herkunft mit hoher Wahrscheinlichkeit als eher unproblematisch auffassen werden, was zugleich zeigt, wie „normal“ es scheinbar ist, diese Frage zu stellen, die alles andere als nur die Frage nach der Herkunft ist. Es ist eine Gewohnheitsstruktur, der sich viele bereits unterworfen haben, ohne es jemals bewusst zu hinterfragen. Wenn ein weißer Mensch aus einer dominanten Gesellschaftsgruppe mich fragt, woher ich komme, dann dient es in erster Instanz dem Prozess der Abtrennung (auch bekannt als „Othering“). Bewusst oder unbewusst, hier wird die erste Grenze gesetzt. „Du siehst anders aus, du wirkst anders, erklär dich mal. Woher kommst du?“. „Du trägst ein Kopftuch, aber dafür sprichst du ja ganz gut Deutsch, woher kommst du?“.
Das könnten plausible, wenn auch „nur scheinbar“ banale Gedanken, die unterbewusst hinter diesen Fragen stehen. Mein Dasein allein reicht nicht, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Es ist hierbei relativ gleichgültig, ob so eine Fragestellung mit oder ohne bewusste Intentionen erfolgt.
Woran merke ich, dass ich die Frage meiner Herkunft meiden möchte, wenn ich mich innerhalb einer dominanten Gesellschaftsgruppe befinde? Ich achte beispielsweise besonders auf meine Ausdrucksweise und Artikulation und mein allgemeines Verhalten. Denn ich möchte auf keinen Fall auffallen. Und ich neige dazu, Gruppen aufzuspüren, die die gleichen Erfahrungen machen und begebe mich in deren Präsenz, weil ich dort mein Dasein nicht rechtfertigen muss. Ein sogenannter „Safer Space“. Ob meine Ausdrucksweise nun gut ist oder auch nicht, am Ende des Tages kommt die Frage dann doch. „Woher kommst du?“. Klingt ein wenig extrem oder? Tatsächlich ist es eine alltägliche Realität, die von Menschen „wie uns“ mal mehr und mal weniger bewusst erlebt wird.
Warum freue ich mich innerlich, wenn ich in den Nachrichten einen „nicht deutsch aussehenden Menschen“ sehe, der fließend Deutsch spricht? Warum freue ich mich, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte Exzellenzleistungen im Bildungswesen erzielen? Warum hoffe ich zutiefst, dass bei jeder Gewalttat, die in Deutschland passiert, kein „Ausländer“ oder „Flüchtling“ der Täter ist? Ironischerweise beobachte ich nicht zum ersten Mal, dass es mir bei einem Auslandsaufenthalt leichter fällt zu sagen, ich sei Deutscher, als in Deutschland selbst. Es liegt mit großer Wahrscheinlichkeit daran, dass diese Aussagen im Ausland nur selten weiter hinterfragt wird.
In aller Ohnmacht, die der rechtsterroristische Anschlag von Hanau gebracht hat, sah ich ein Interview einer Mutter, die den Tot ihres Sohnes beklagen musste. Sie sagte: „Mein Sohn hat doch eine Ausbildung gemacht und ganz normal gearbeitet (..)“. Was steht hier zwischen den Zeilen? Eine Mutter, die die Bereicherung ihres Sohnes der deutschen Gesellschaft, sein Zugehörigsein erst rechtfertigen muss. Sie versteht den Tod ihres Sohnes nicht. Er hat doch scheinbar alles getan, um Teil dieser Gesellschaft zu sein. Er machte doch eine Ausbildung und arbeitete ganz gewöhnlich. Und dennoch musste er sterben; weil er anders war.
Ist die Frage nach der Herkunft verboten? Selbstverständlich nicht. Aber selbst ich habe eine lange Zeit nicht realisiert, wie persönlich diese Frage eigentlich ist. Und dennoch wird sie von vielen Menschen in fremden und formellen Begegnungen an erster Stelle gestellt. Ich will nicht anklagen und auch keine Betroffenheit auslösen oder sehen. Dennoch wünsche ich mir mehr Solidarität einer Mehrheitsgesellschaft, Mut und Willen zum Verstehen und Hinterfragen bestimmter Gewohnheitsstrukturen. Mit meinen zweiundzwanzig Jahren fange ich an, darüber nachzudenken, was solch scheinbar einfache Fragen mit meinem eigenen sozialen Verhalten tun. Zu fragen, was es mit meinem Freund tut, dessen Eltern aus der Türkei stammen und der im Politikunterricht das Verhältnis zu Erdogan erklären musste. Zu fragen, was es mit meiner Freundin tut, wenn sie die Erdölförderung in Nigeria im Geographieunterricht erläutern soll. Ihre Eltern stammen aus Ghana.
Rassistische, diskriminierende und ausgrenzende Gewohnheitsstrukturen sind so alltäglich und werden täglich übersehen. Und gleichzeitig werden diese Begriffe in Deutschland so normativ behandelt, als hätten sie nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg stattgefunden, wie wir es im Schulunterricht gelernt haben, oder wenn sich ein rechtsradikal motivierter Anschlag wie in Hanau ereignet.
Musste es so weit kommen?
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