#WissensWerte: „Steht alles Kopf? Oder heißt das, dass wir fliegen können?“ Neue Theaterräume für junges Publikum in Hamburg – ein Interview mit Klaus Schumacher, Jungen SchauSpielHaus Hamburg
Elena de Zubiaurre Racis, Programmleitung Claussen-Simon-Stiftung
In der fünften Ausgabe unserer Reihe #WissensWerte steht die Welt des Kinder- und Jugendtheaters im Mittelpunkt. Das Junge SchauSpielHaus wurde als zweite Sparte des Deutschen SchauSpielHauses Hamburg gegründet, es legt neben der Entwicklung und Realisierung anspruchsvoller Theaterprojekte für Kinder und Jugendliche großes Augenmerk auf die Ausbildung junger Theaterschaffender für ein junges Publikum. Seit der Spielzeit 2005/06 wird es von Klaus Schumacher künstlerisch geleitet. Er ist daneben als Regisseur an diversen Theatern tätig, als Dozent an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT) im Studiengang Regie und am Mozarteum in Salzburg, ebenso für die Regieausbildung.
Über die Jahre wurde das Junge SchauSpielHaus mehrfach ausgezeichnet und zu Festivals eingeladen, es gehört bundesweit zu den renommiertesten Theatern für junges Publikum. Zur Spielzeit 2021/22 wird es gemeinsam mit der Theaterakademie der HfMT seinen neuen Standort am Wiesendamm in Barmbek an der Grenze zu Winterhunde beziehen. Die Claussen-Simon-Stiftung fördert das Junge SchauSpielHaus für zwei Jahre. Im Rahmen dieser Förderung wird für Regieabsolvent:innen der Studiengänge Schauspieltheater und Musiktheater der HfMT ein neues Format geschaffen: das Postgraduierten-Projekt. Jedes Jahr erhält ein:e Absolvent:in die Möglichkeit, eine Inszenierung am Jungen SchauSpielHaus zu erarbeiten und zu zeigen. Diese soll einen forschenden Ansatz haben und innovative Theaterformen für Kinder und Jugendliche erproben.
Elena de Zubiaurre, Programmleitung für Projektförderungen in Kunst & Kultur bei der Claussen-Simon-Stiftung, spricht mit Klaus Schumacher über das junge Publikum und über das, was es im Theaterraum erleben kann.
Lieber Herr Schumacher, lieber Klaus wodurch zeichnet sich euer Angebot für junges Publikum aus?
Wir bieten Theater an, das zwischen den Generationen funktioniert. Für die Stücke wird eine Altersuntergrenze definiert, die nach oben hin offen ist. Die schönsten Veranstaltungen sind solche, bei denen sich Generationen treffen, miteinander eine Erfahrung machen und dann über das Erlebte ins Gespräch kommen. Wir sind im Alltag so getrennt voneinander und Teil unserer eigenen Peer Group, wenn wir durch die Welt gehen. Natürlich spielen wir auch für Schulklassen und für Gruppen, die für ein bestimmtes Alter definiert sind. Wir proben gerade eine unserer Eröffnungsproduktionen, welche ab fünf angesetzt ist. Da muss man dann schauen, an welchem Entwicklungspunkt die Kinder gerade sind. Wie funktioniert ihre Wahrnehmung? Wie groß ist ihre Aufmerksamkeitsspanne? Schaffen sie eine Stunde? Schaffen sie vielleicht sogar eine Stunde und zwanzig Minuten? Darüber sprechen wir viel und versuchen sehr präzise mitzudenken, welche Erfahrungen wir mit der Wahrnehmung von Kindern und ihrer Aufmerksamkeit haben.
Wie würdest du das junge Publikum von heute beschreiben?
Jugend und Kindheit sind eine Zeit, die von großer Wachheit und Neugier geprägt ist, und wir können davon ausgehen, dass es eine große Lust gibt auf Neues und eine Lust zu lernen, neue Dinge anzufassen und zu betrachten. Das war zu anderen Zeiten nicht anders als heute. Jetzt finde ich es zum Beispiel wichtig, dass Kinder auch in ihren Körpern bleiben, weil sie gerade so viel mit den Augen und mit dem Kopf verarbeiten, wenn sie auf Bildschirme schauen. Es ist mindestens ebenso wichtig, seinen Körper zu spüren. Damit meine ich nicht nur Sport, sondern auch Hitze, Kälte, Regen, Wind und Gerüche wahrzunehmen.
Warum brauchen junge Menschen heute Theater?
Theater ist ein toller Ort, um eine andere Perspektive einzunehmen, denn unsere eigene Perspektive haben wir ja immer. Unser eigenes erstes Urteil fällen wir schnell. Durch ein Stück und eine Geschichte können wir durch andere Augen schauen, neue Impulse bekommen und neue Perspektiven einnehmen. Das scheint mir nicht nur für Kinder wichtig, sondern für alle. Und diesen Gedanken kann man natürlich mit sehr viel Spaß, Musikalität und Rhythmus und einer Lust an der Form verbinden. Das versuchen wir im Jungen SchauSpielHaus zu kultivieren und merken, dass Kinder dabei die größten Erkenntnismomente erleben. Beim konventionellen Abendpublikum im SchauSpielHaus oder im Opernhaus sind die Sprünge im Vergleich wahrscheinlich nicht mehr ganz so groß.
Wir haben tatsächlich immer wieder erlebt, dass das Publikum den Saal anders verlässt, als es den Saal betreten hat. Dass sich etwas in Bewegung gesetzt hat.
Was passiert, wenn das junge Publikum und die Schauspieler:innen aufeinandertreffen?
Im besten Fall wird mitgefühlt, aber auch ausdrücklich mitgedacht! Zum Beispiel, indem man eine Identifikationsfigur in der Geschichte findet und dann mit dem Kopf dabei ist. Dass man nicht nur emotional mitgeht und durch die Geschichte gespült wird, sondern dass man konstruieren muss: „Wenn der Schauspieler jetzt den Hut aufhat, dann bedeutet es, dass er gerade der Vater ist, und wenn er ihn wieder absetzt, dann ist er der Sohn.“ Hier trainieren wir als Zuschauende aktiv das Konstruieren und entwickeln das Gesehene weiter. Sehr wichtig finde ich, dass man sich mit Figuren und der Geschichte, die erzählt wird, verbinden kann, vielleicht sogar sich selbst erkennt, aber eine Bewegung zu einer neuen Erfahrung macht. Wenn das alles mit einer wunderbar spielerischen Behauptungslust auf beiden Seiten verbunden ist, könnte es gutes Theater sein.
Wie sieht ein Theaterort aus, an dem diese Art von Begegnung möglich ist?
Wir durften für den Wiesendamm einen neuen Theaterraum entwerfen, und da war uns das Foyer zum Beispiel wahnsinnig wichtig. Im Foyer wird das Publikum über ein Gemälde laufen. Unsere Ausstattungsleiterin Katrin Plötzky hat einen Himmel entworfen, der von Bühnenmaler:innen auf den Boden aufgebracht wird. Das ist eine Perspektivverschiebung, die kurz irritiert und gleichzeitig Spaß macht. Was heißt das jetzt im Weiterdenken? Steht alles Kopf? Oder heißt das, dass wir fliegen können? Dass solche Irritationen und Anregungen im Raum vorhanden sind, finde ich für junges Publikum besonders schön. Es ist wichtig, dass wir in allem, was wir ausdrücken, lebensbejahend und fantasievoll sind, und dass wir mit allem, was wir von uns geben, gerade den Jüngsten sagen: „Das kriegen wir hin, wir schaffen das. Wir müssen das lösen, aber wir schaffen das.“ Bei Jugendlichen und Älteren geht es dann mehr um Gegenwartsbeschreibungen und die Entwicklung von eigenen Positionen. Die grundsätzliche Freundlichkeit, eine konstruktive Grundhaltung soll sich in den Räumen abbilden. Das richtet sich auch an das Personal bis hin zur Technik. Die Atmosphäre soll bewirken, dass man Lust bekommt, Zeichen zu lesen und damit sensorisch schon auf das eigentliche Theatererlebnis vorbereitet, offen dafür ist. Es wird auch verschiedene Möglichkeiten des Sich-Aufhaltens geben: Man kann sich zusammensetzen, alleine herumstehen und etwas stöbern, man kann sich im Stehen unterhalten und vielleicht sogar irgendwo hinlegen. So stelle ich mir das vor.
Wie würdest du den Theaterort beschreiben, der gerade am Wiesendamm in Barmbek entsteht?
Das Junge Schauspielhaus bekommt ein neues Theatergebäude mit zwei Aufführungssälen. Einem großen für 180 Zuschauer:innen mit Drehbühne und aufwändiger Technik und Ausstattung. Dort werden wir die großen Inszenierungen zeigen. Im kleinere Studio haben wir Platz für rund 90 Zuschauer:innen und eine etwas intimere, pure Situation. Außerdem gibt es eigene Proberäume, ein eigenes Lager, kleine Werkstätten. Diese sind dann nicht mehr über verschiedene Standorte verteilt, was für uns als Institution ein großer Schritt ist.
In den letzten Monaten war Theater vor allem im digitalen Raum möglich. Wo liegen da die Potenziale, und was fehlt?
Gerade planen wir die übernächste Spielzeit, und es ist wirklich interessant, weil wir jetzt über Mischformate nachdenken. Vielleicht machen wir in zwei Jahren nicht mehr nur Theater im analogen Raum, sondern übertragen die Aufführung nach München oder Tokio, wo die Menschen dort dann Einfluss darauf nehmen können. Dass solche Kommunikationsbrücken möglich sind, haben wir im letzten Jahr entdeckt und trainiert. Nicht nur wir Theaterleute, sondern wirklich alle. Wir sind angstfreier geworden, auch was neue Formen des Kontakts angeht. Das wirkt sich sicherlich auf das Theater aus und wird auch zukünftig zu neuen Blüten führen. Was fehlt, ist natürlich die Begegnung im Analogen. Wir haben vieles fast vergessen. Was bedeutet es, wenn zehn Leute gemeinsam lachen oder weinen? Oder wenn 180 Leute auf einmal ganz still werden? Solche Bewegungen müssen wir wahrscheinlich wieder üben. Wir reden über den Hunger nach Kultur, und ich bin wirklich gespannt, wie es wieder losgeht. Es wird gar nicht so leicht, all das wieder zu erlernen; am schwersten werden es die Kleinsten haben, die gerade grundsätzlich lernen, was es bedeutet, sich in Gemeinschaft zu verhalten. Wo und wer bin ich eigentlich, wenn ich mit zwanzig Leuten in einem Raum bin? Wann komme ich vor? Das letzte Jahr war für Kinder und Jugendliche eine schwierige Übung, und ich hoffe, dass sie aufholen können, was sie versäumt haben.
Was braucht das junge Publikum nach der Pandemie?
Es braucht zum einen sehr viel Verständnis für das, was sie gerade erlebt haben, und zum anderen ein großes Angebot an Kunst, Theater, Musik – all das, was ihnen die Möglichkeit gibt, sich selbst und sich selbst im Austausch mit anderen zu erleben.
Vielen Dank für die Impulse und viel Erfolg und Freude beim Umzug an den Wiesendamm!
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