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Spielen, Bauen und Sortieren – Mathematik im Kita-Alltag entdecken und begleiten
Dr. Bettina Schmidt, Netzwerk "DESY - Kleine Forscher Hamburg"
Mathematik ist ein wichtiger alltäglicher Bestandteil unseres Lebens, mächtiges Werkzeug und voller Schönheit. Wir hätten allen Grund dazu, sie zu schätzen und ihr positive Gefühle entgegenzubringen, allerdings tauchen beim Wort „Mathematik“ bei vielen Menschen Bilder und Gefühle auf, die leider nicht sehr positiv besetzt sind. Versuchen wir, uns konkret an Mathematik in unserer Grundschulzeit zu erinnern, sind diese Bilder und Gefühle meistens eher undeutlich. Häufig kommen uns Inhalte (wie z.B. Sachaufgaben) und Tätigkeiten (wie etwa die Arbeit mit geometrischen Plättchen) in den Sinn oder auch Personen, die uns mal mehr und mal weniger gut bei unseren mathematischen Entdeckungsreisen begleitet haben.
An konkrete Erfahrungen und damit verbundene Gefühle in der Kita bzw. im frühkindlichen Alter, die wir mit unserem Erwachsenenwissen dem Bereich Mathematik zuordnen würden, erinnern sich vermutlich nur noch die wenigsten Menschen. Viele haben auch keine konkrete Vorstellung davon, was Mathematik in der Kita über Zahlen/Zählen und geometrische Formen hinaus beinhalten könnte. Dabei ist der Kita-Alltag voll von mathematischen Inhalten, wenn wir die Mathe-Brille aufsetzen und beobachten, wofür sich die Kinder interessieren und was sie den ganzen Tag tun.
Schon in diesem frühen Alter ist es enorm wichtig, gute Grundlagen zu legen: Dazu gehören auch positive Mathe-Erfahrungen mit einer qualifizierten Lernbegleitung und der konkrete Erwerb von bestimmten mathematischen Kompetenzen. Früher wurde im frühkindlichen Bereich oft der Begriff „Vorläuferfähigkeiten“ genutzt, heute spricht man von „Basiskompetenzen“. Denn alle Tätigkeiten, die Kinder in diesem Kontext durchführen, und alle Kompetenzen, die sie erwerben, sind per se Mathematik.1
Doch warum ist es wichtig, mathematische Inhalte früh zu thematisieren? Zum einen ist es für die Kinder in der Grundschule schwerer, an schulische Inhalte anzuknüpfen, wenn ihnen entsprechende Grundlagen fehlen. Zum anderen ist Mathematik in unserem alltäglichen Erwachsenenleben nicht wegzudenken, zum Beispiel im Hinblick auf unsere privaten Finanzen. Ein wichtiger Aspekt, der insbesondere angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen nicht vergessen werden darf: Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Vergeht uns schon früh die Lust auf Mathematik, wird es in der weiterführenden Schule schwer, sich für Themenbereiche wie beispielsweise Statistik zu motivieren. Dabei spielt insbesondere dieser Bereich eine wesentliche Rolle in der demokratischen Meinungsbildung: Ergebnisse von Befragungen und Erhebungen nicht nur zu lesen, sondern auch kritisch zu hinterfragen, ist eine wichtige Kompetenz, um die Informationsflut, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind, zu ordnen und zu bewerten.2
Frühkindliche mathematische Bildung ist also wichtig – aber wo können wir in der Kita Mathematik finden? Vielleicht kommen uns als erstes Zahlen in den Sinn – auf dem Geburtstagskuchen, in vielen Kitas aufgeklebt auf Treppenstufen oder auf Bussen, mit denen die Gruppe auf einen Ausflug fährt. Auf der Waage und der Kasse im Einkaufsladen, in und auf Büchern in Form von Seitenzahlen und ISB-Nummern – Zahlen sind wahrhaftig überall zu entdecken. Auch Formen und Körper sind überall in der Kita und im Alltag der Kinder zu finden: runde Teller, dreieckige Verkehrsschilder, Spielwürfel und vieles mehr.
Das Thema Daten und Zufall hingegen wird deutlich stiefmütterlicher behandelt. Das könnte daran liegen, dass wir Erwachsenen uns aus den verschiedensten Gründen lieber mit den Bereichen Zahlen und Formen beschäftigen und selbst keine gute Vorstellung davon haben, um was es im Bereich Daten und Zufall bereits in der Kita gehen kann. Erste Schritte sind hier, zum Beispiel Daten auf verschiedene Arten und Weisen darzustellen. Die Frage, wer heute zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto in die Kita gebracht wurde, lässt sich zunächst mit konkreten Objekten (wie Figuren, die neben ein Bild von einem Fahrrad gestellt werden) veranschaulichen. In einem nächsten Schritt können Strichlisten und später Ziffern genutzt werden, um die Anzahl darzustellen. Im Bereich Zufall spielen beispielsweise philosophische Gespräche (beispielsweise über die Begriffe „sicher“, „wahrscheinlich“ und „unmöglich“) eine wichtige Rolle. Auch kombinatorische Aufgaben können schon früh ausprobiert werden, etwa wie viele Möglichkeiten es beim Bau von Türmen mit verschiedenfarbigen Bauklötzen gibt.3
Um diese frühen mathematischen Grundlagen zu legen, bedarf es in der Regel keiner besonderen Förderangebote oder Materialien. Eine gute Lernbegleitung erkennt mathematische Bezüge im Alltag, im Spiel und den Interessen der Kinder und greift diese auf, denn allein die Anwesenheit von mathematischen Anlässen und Materialien führt nicht automatisch zur Entwicklung von Kompetenzen bei Kindern. Dafür muss die Lernbegleitung die Situationen als mathematisch bedeutsam erkennen und diese Bedeutung den Kindern vermitteln können.4 Auch eine angemessene sprachliche Begleitung dieser Situationen spielt eine besondere Rolle.
Die Wichtigkeit guter frühkindlicher mathematischer Bildung wurde in Hamburg vor Kurzem unterstrichen, als das Vorstellungsverfahren der Viereinhalbjährigen (ein standardisiertes Verfahren zur Einschätzung altersgemäßer Kompetenzen in unterschiedlichen Bildungsbereichen für alle Kinder in Hamburg) überarbeitet wurde. In diesem Zuge wurden die mathematischen Items deutlich ausdifferenzierter dargestellt als vorher. Das Netzwerk „Kleine Forscher Hamburg“ war Teil dieser Entwicklungsgruppe. Im Austausch mit der Sozialbehörde, mit Trägern, Verbänden und Fachkräften wurde deutlich, dass in Hamburg der Bedarf für ein gutes Fortbildungsangebot für pädagogische Fachkräfte in Kitas im Bereich frühe mathematische Bildung besteht.
Das Netzwerk „Kleine Forscher Hamburg“ bietet schon lange die Fortbildungen der Stiftung Kinder forschen (früher: „Haus der kleinen Forscher“) in der Hansestadt an. Die beiden bereits bestehenden Mathematik-Fortbildungen richten sich allerdings an Fach- und Lehrkräfte, die mit Kindern im Alter von 3 – 10 Jahren arbeiten. Aus diesem Grund wurde der Fokus für die Hamburger Neukonzeption auf Fachkräfte gelegt, die mit Kindern im Alter von 1 – 4 Jahren arbeiten und knüpft somit an die Zeit vor dem Viereinhalbjährigen-Vorstellungsverfahren an.
In der neuen Fortbildung „Spielen, Bauen und Sortieren – Mathematik im Kita-Alltag entdecken und begleiten“ wird zunächst gemeinsam erarbeitet, wo im Alltag der Kita überhaupt Mathematik zu finden ist. Daraufhin beschäftigen sich die Teilnehmenden anhand von typischen Situationen und Materialien aus der Kita (z.B. Bauklötzen, Regelspielen oder Naturmaterialien) mit verschiedenen mathematischen Basiskompetenzen und Tätigkeiten. Im zweiten Teil wird die bereits erwähnte große Bedeutung guter sprachlicher Begleitung aufgegriffen, mit Hilfe eines Videos verdeutlicht und dann in Kleingruppen anhand von konkreten Situationen geübt. Zwischen den einzelnen Phasen gibt es kurze Warm-Ups aus den Bereichen Musik und Bewegung, anhand derer herausgearbeitet wird, dass Mathematik zwar ein eigener Bildungsbereich ist, sich aber zu allen anderen Bereichen Bezüge dazu herstellen lassen. Zum Abschluss schauen die Teilnehmenden auf die eigene Kita: Mit welchen Materialien beschäftigen sich die Kinder am liebsten? Was sind ihre Themen und wo halten sie sich am liebsten auf? Und welche mathematischen Basiskompetenzen und Tätigkeiten finden sich hier wieder? Zur Fortbildung gehören auch ein Wimmelbild und eine Broschüre mit Hintergrundwissen und Tipps, die voraussichtlich noch bis Ende 2023 erscheinen werden.
Weitere Bausteine im Projekt sind geplant, da jedoch im kommenden Jahr die neuen Bildungsempfehlungen für die Kitas in Hamburg erscheinen und ggf. auch die bestehenden Angebote der Stiftung Kinder forschen im Bereich Mathematik erweitert werden, wird erst geprüft, welche Projektbausteine am sinnvollsten sind. In jedem Fall wird es aber im Rahmen der bereits bestehenden Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle eine neue Fortbildung an der Schnittstelle Kunst und Mathematik geben. Diese Art von bildungsbereichübergreifendem Format wurde bereits sehr erfolgreich für die Bereiche Farbe und Papier getestet.
Seit September ist die neue Fortbildung regulärer Bestandteil des Angebotes in Hamburg und wird gut angenommen. Wir freuen uns darauf, die pädagogischen Fachkräfte in den nächsten Jahren weiter zu begleiten und sind gespannt, welche Bedarfe sich ergeben werden.
Das Netzwerk „DESY – Kleine Forscher Hamburg“ engagiert sich im Bereich der frühkindlichen MINT-Bildung (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) für nachhaltige Entwicklung. Es bietet Fortbildungen für pädagogische Fach- und Lehrkräfte aus Hamburger Kitas und Grundschulen an, mit dem Ziel, Kinder stark für die Zukunft zu machen und zu nachhaltigem Handeln zu befähigen.
1 Steinweg, A. S. (2008). Grundlagen mathematischen Lernens vor der Schule. In E. Vásárhelyi (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht (S. 273-276). Münster: Martin Stein Verlag.
2 Kleine, M. (2021). Mathematische Grundbildung als Baustein einer demokratischen Meinungsbildung. PraxisForschungLehrer*innenBildung. Zeitschrift für Schul- und Professionsentwicklung. (PFLB), 3(3), 113–121.
3 Lorenz, J. H. (2016). Kinder begreifen Mathematik. Frühe mathematische Bildung und Förderung. 2. Aufl. Kohlhammer
4 Gasteiger, H. (2010). Elementare mathematische Bildung im Alltag der Kindertagesstätte: Grundlegung und Evaluation eines kompetenzorientierten Förderansatzes. Empirische Studien zur Didaktik der Mathematik 3. Waxmann
Dr. Bettina Schmidt ist bei „DESY - Kleine Forscher Hamburg“ für pädagogische Qualität und die Vernetzung verantwortlich.
Das Netzwerk „Kleine Forscher Hamburg“ wird vom Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY (einem Forschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft) getragen. „DESY – Kleine Forscher Hamburg“ wird durch eine mehrjährige Förderung der Claussen-Simon-Stiftung unterstützt.
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