Herbsthausen: Wie ich zwischen Elbfahrradtour und Kräuterkunde das Informelle schätzen lernte
Christopher Dippert, stART.up-Alumnus
Manchmal muss man einfach raus. Raus aus dem eigenen Kopf, raus aus dem Alltag, raus aus dem ständigen „Ich müsste noch…“. In meinem Fall hieß „raus“: fünf Tage im entstehenden Kunstort Herbsthausen im Wendland. Zugegeben, ich hatte keine klare Vorstellung davon, was mich dort bei der Residenz „FORMELL → INFORMELL“ erwarten würde – außer vielleicht: Natur, Austausch, ein bisschen Kunst. Was ich bekam, war deutlich mehr. Eine Art Denk-Sabbatical mit Herz und Humor.
Schon die Anreise fühlte sich anders an. Während wir in der Abendsonne über kleine Landwege fuhren, gab Alexander auf dem Beifahrersitz den Ton an: mit einer musikalischen Reise durch Kurt Weills „Die sieben Todsünden“. Ein Impuls, der so unmittelbar außerhalb meines gewohnten Horizonts lag, dass ich ahnte: Diese Tage würden besonders werden.
Der erste Abend begann, wie es sich für gute Geschichten gehört: mit einem gemeinsamen Abendessen. Empfangen wurden wir herzlich von unserer Mitstipendiatin Chenxi und ihrem Mann Camillo, die den Hof mit dem alten Sägewerk Herbsthausen führen – mit viel Herzblut, einer ordentlichen Portion Tatkraft und einem wunderbaren Sinn für Gastfreundschaft. Zwischen dampfenden Suppenschüsseln und sich vorsichtig vortastenden Gesprächsfetzen wurden erste Bande geknüpft. Und wer hätte gedacht, dass ein einfaches „Was erwartest du dir von den kommenden Tagen?“ zu so ehrlichen, offenen und erstaunlich tiefgründigen Antworten führen kann? Es war, als hätten wir alle nur darauf gewartet, mal kurz den inneren Filter abzuschalten.
Am nächsten Morgen dann: Yoga. Um acht. Ja, wirklich. (Vielleicht war es auch schon neun.) Unsere wunderbare Seda schaffte es aber irgendwie, selbst meine verknoteten Morgen-Ich-Gedanken zu entwirren – und meinen Nacken gleich mit. Mit frischer Luft in der Lunge und einem Hauch Sonnenaufgang auf der Matte startete der Tag direkt in Slow Motion. Und das war auch gut so, denn es folgten Kräuterwanderungen (danke Sylvia, ich erkenne jetzt Spitzwegerich auf zehn Meter Entfernung), Gespräche über Kunst im Skulpturenpark und ein Abstecher ins Schloss des Grafen von Bernstorff. Wer hätte gedacht, dass zwischen Schlossmauern und Waldwiesen so viele Denkanstöße auf einen warten?
Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist: die Fahrradtour. Klingt erstmal banal, war es aber nicht. Denn als wir entlang der Elbe durch ein ehemaliges Grenzgebiet radelten, wurde aus Bewegung plötzlich Geschichte. Körperlich spürbar. Dass politische Räume nicht nur in Büchern, sondern in Landschaften eingeschrieben sind – das vergisst man im urbanen Alltag zu leicht. Am Mittagstisch später wurde es dann wieder praktisch: Projektpläne, Ideentausch, Aha-Momente. Wie viel Wissen eigentlich schon in unserer Gruppe schlummert, war fast ein bisschen einschüchternd. Zum Glück gab es abends wieder kollektive Leichtigkeit beim selbstorganisierten Spielabend.
Apropos Spielabend: Gespielt wurde eigentlich jeden Tag – und das nicht zu knapp! Besonders heiß ging es bei unseren BANG!-Runden her. Mit Pokerface, Täuschungstaktiken und jeder Menge Gelächter wurde der Abend regelmäßig zum Wettkampf der besten Westerncharaktere. Es war absurd, laut und vor allem: verbindend.
Am Samstagabend konnten wir dann sogar noch in Alexanders Geburtstag hineinfeiern. Natürlich stilecht mit einem Apfelkuchen, der mit regionalen Zutaten und Eiern vom eigenen Hof gebacken wurde. Der Sonntag führte uns ins Gorleben-Archiv – und mitten hinein in eine andere Dimension von Engagement, inspirierend und, ja, auch ein bisschen unbequem. Aber gerade das war wichtig. Denn dort trafen künstlerische Praxis und gesellschaftliche Verantwortung aufeinander – nicht theoretisch, sondern sehr konkret. Zurück im Residenzhaus diskutierten wir weiter, gaben uns Feedback, teilten Sorgen und Fortschritte. Und es war plötzlich ganz selbstverständlich, ehrlich zu sein. Nicht nur mit den anderen – sondern auch mit sich selbst.
Der Montag kam schneller, als mir lieb war. In der Abschlussrunde wurde noch einmal deutlich, was diese Tage mit uns gemacht hatten: Wir waren uns nähergekommen. Es ging längst nicht mehr nur um Projekte, sondern um Haltungen. Um Vertrauen. Um die Lust, Dinge gemeinsam weiterzudenken. Wenn ich heute an Herbsthausen denke, dann denke ich nicht nur an riesige Sägen und Maschinen, Fachwerkhäuser, Wiesenwege und Yogamatten. Ich denke an Gespräche, die mir im Kopf geblieben sind. An stille Momente mit großer Wirkung. An das Gefühl, dass Entwicklung nicht immer laut sein muss. Und daran, wie wohltuend es ist, wenn das Formelle mal lockerlässt – und das Informelle übernehmen darf.
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