FUTUREPROOF – wie wir mit Kunst und Wissenschaft ein Bild von der Zukunft gewinnen können
Ben Nurgenç, Bildender Künstler und stART.up-Alumnus
Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor? Wie prägt Technologie unsere Wahrnehmung der Welt – sowohl in der kreativen Praxis als auch in den Naturwissenschaften? Wie weit ist wissenschaftliche Forschung von Spekulation entfernt? Könnten wir (Künstler*innen) bald überflüssig werden, und was wird sich als zukunftssicher erweisen?
FUTUREPROOF ist eine künstlerische Forschungsplattform von fünf Künstler*innen, einer Kuratorin und zwei Wissenschaftlern und war vom 23. bis 31. Juli 2022 im Kraftwerk Bille in Hamburg zu Gast. Die Ausstellung zeigte Werke aus den Bereichen Malerei, Skulptur, Digitaldruck, Video, Sound, Künstliche Intelligenz und Mixed Media. Dazwischen befanden sich ein skurriles DIY-Mikrobiologielabor und Beispiele wissenschaftlicher Arbeiten über das frühe – und das zukünftige Universum. Der rote Faden des gesamten Projekts war der gemeinsame Wunsch, verschiedene Visionen der Zukunft aus unterschiedlichen Perspektiven und Wissenssystemen zu betrachten und miteinander in Dialog zu bringen. Diesem Wunsch geht die Gruppe auch über die Ausstellung hinaus nach und setzt die Zusammenarbeit fort.
Anstatt Kunst, Geistes- und Naturwissenschaft als drei verschiedene Wissens- und Forschungsbereiche zu betrachten, erforscht dieses Projekt die Durchlässigkeit zwischen den Disziplinen. Wenn man davon ausgeht, dass die Naturwissenschaften auf der Grundlage von Fakten nur seriöse Formen des Wissens und unbestreitbare Wahrheiten hervorbringen, während der künstlerische Ausdruck die Phantasie und das Vergnügen bedient, dann schlägt dieses Projekt vor, solche epistemischen Postulate neu zu konfigurieren. Wir behaupten, dass die Überschneidungen der Disziplinen nicht nur in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zukünften liegen, denn je nach Vorstellungsvermögen kann die Zukunft sehr unterschiedlich aussehen. Wir glauben auch, dass viele Ähnlichkeiten in der Art der Wissensproduktion gefunden werden können. Für uns sind die verbindenden und verwandten Methodiken zwischen Kunst und Wissenschaft die Spekulation und das Experimentieren.
Unser Ausgangspunkt für dieses Projekt war Adolfo Bioy Casares' Erzählung „Morels Erfindung“ (1940), eines der frühesten Werke der spekulativen Fiktion. Technologische Entwicklungen vorwegnehmend, die mehrere Jahrzehnte später erst etabliert wurden, inspirierte uns die Erzählung zu einem Dialog über die Verflechtungen von Fiktion, Wissenschaft, Technologie und Imagination. Welche Rolle nimmt die kulturelle Produktion bei der aktiven Gestaltung der Zukunft ein? „Morels Erfindung“ erzählt die Geschichte eines Flüchtigen, der auf einer unbewohnten Insel Unterschlupf findet. Er stellt aber bald fest, dass eine Gruppe von Menschen, die wie Touristen der 1920er Jahre gekleidet sind, schon auf der Insel leben. Der Flüchtige versteckt sich erneut, weil er befürchtet, dass sie ihn den Behörden ausliefern würden. Doch beim heimlichen Beobachten, der Bewohner*innen der Insel verliebt er sich in eine dieser. Bald schon gelingt es ihm nicht mehr, sich zu verstecken, aber er muss feststellen, dass seine Anwesenheit völlig unbeachtet bleibt. Die Gruppe von Menschen folgt jede Woche, Tag für Tag und Stunde für Stunde genau demselben Muster von Aufenthaltsorten, Gesprächen und Verhalten. Ihre Handlungen und Worte wiederholen sich, als handele es sich um ein Re-Enactment oder einen Teil eines Drehbuchs. Im Laufe der Handlung findet der Flüchtige schließlich heraus, dass es sich bei diesen mysteriösen Figuren nicht um Menschen handelt, sondern um dreidimensionale Projektionen, die von einem ausgeklügelten optischen Apparat erzeugt werden: einer von einem Wissenschaftler namens Morel erfundenen Maschine. Morel selbst ist ebenfalls Mitglied dieser gespenstischen Gemeinschaft – er ist, als ihr Produzent, gleichzeitig mit den anderen in der Projektion gefangen und verewigt. Dieser Kunstgriff kostete die Gruppe jedoch ihr reales Leben. Der Flüchtige benutzt in seinem verzweifelten Wunsch, bei seiner Geliebten zu sein, schließlich die Maschine und fügt sich in einer eigenen Projektion zu der vorhandenen hinzu.
Wenn Casares – oder auch die Literatur der Mitte des 20. Jahrhunderts – in der Lage war, eine Art von Hologramm, wie wir sie heute kennen, zu erahnen, wie kann dann die zeitgenössische Kunst die Zukunft vorwegnehmen? Wie können wir uns die Zukunft vorstellen oder darüber spekulieren? Im Ausstellungsraum von FUTUREPROOF waren mehr als Menschen anwesend: Palmen auf Malereien, Computeralgorithmen, irdische und außerirdische Gesteine und Organismen, Systeme künstlicher Intelligenz, Bilder der Medien-, Marketing- und Kriegsindustrie, kosmische Simulationen, Pilze in Petrischalen und Ton haben sich in diesem Experiment verstrickt.
Als wir 2019 anfingen, zusammen an dieser Ausstellung zu arbeiten, konnte niemand von uns ahnen, dass unsere Zukunft merkwürdiger als jede Fiktion werden würde. Gemeinsam sind wir von „Morels Erfindung“ ausgehend auf eine Reise in die Zukunft aufgebrochen, die uns geradewegs durch die Corona-Pandemie geführt hat. Dadurch wurde ein großer Teil unserer Arbeit selbst zur Fiktion, denn zwei Jahre lang war nicht ersichtlich, ob diese Ausstellung jemals stattfinden werden würde. Am Ende hatte unsere Spekulation über eine Ausstellung aber eine reale Manifestation: Wir haben im Juli 2022 die Werke aller Künstler*innen im Kraftwerk Bille ausgestellt. Der einzige Wermutstropfen war, dass zwei der Künstler*innen am Ende nicht persönlich anreisen konnten. Desiree Ding war im Lockdown in Shanghai eingeschlossen, und Mark Gens konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen.
Im Laufe der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Inspiration sind künstlerische Arbeiten entstanden, bei denen der Hintergrund, vor dem die Künstler*innen arbeiten, nicht mehr relevant ist, Grenzen sich auflösten: Die beiden beteiligten Wissenschaftler aus den Disziplinen Astrophysik und Neurowissenschaft haben künstlerische Arbeiten gezeigt, und einige der Künstler*innen haben wissenschaftliche Elemente für ihre Kunst genutzt.
Judith Kisner greift in ihren Gemälden die verlassene Insel von Casares wieder auf, um aus ihr einen Urlaubsort zu machen, und zwar mit Hilfe von karikaturhaften, diskreditierten Darstellungen paradiesischer Reiseziele, die mit Palmen bevölkert sind, wie sie in der Werbung unserer Zeit so häufig zu finden sind; Mark Gens durchforstet das riesige Archiv des menschlichen Vorstellungsvermögens in Vergangenheit und Gegenwart, um sich Bilder von Gewalt und Absurdität in einer mediengesättigten Welt wieder anzueignen; ich testete das Potenzial generativer neuronaler Netze für die Schaffung künstlerischer Arbeiten und beeinflusste die Entstehung lebender (Pilz-)Skulpturen; Desiree Ding erforscht die Macht von Objekten und bewegten Bildern als zukünftige Erinnerungsstücke unserer Zeit im Kontext der zeitgenössischen chinesischen Kultur; Kirstin Burckhardt nutzte ihren Hintergrund in der Psychotherapie, um die Poetik des Körpers und die Beziehung zwischen körperlichen Affekten, neuronalen Reizen, Imagination und sozialem Verhalten zu beleuchten; der Neurowissenschaftler Thomas Pfeffer nutzte seine Erfahrung mit Computersimulationen, um mit Hilfe von Algorithmen Bilder von hier und anderswo zu erzeugen, und der Astrophysiker Pranjal Trivedi verwendete Elemente seiner Forschung über die Entwicklung des frühen Universums, um in einer vielschichtigen Videoarbeit über unsere Zeit im Klimawandel zu reflektieren.
Die letzten Jahre der Zusammenarbeit und gegenseitiger Inspiration haben uns als Gruppe stärker zusammenrücken lassen und vor allem durch die Pandemie wurden Arbeitswege über Zeitzonen und Kontinente hinweg gefestigt. Mittlerweile leben die Mitglieder von FUTUREPROOF in Hamburg, Thessaloniki, Barcelona, New York und Shanghai. Nun geht das Projekt in eine neue Phase. Die Ausstellung ist zwar vorbei, doch wer sagt, dass es nicht noch weitere geben wird? Was birgt die Zukunft in Hinsicht auf internationale unserer Zusammenarbeit für uns? Wir sind überzeugt, dass unsere Kunst Menschen und Kulturen verbindet. Unsere Gruppe schmiedet bereits Pläne auch in New York und Shanghai Räume für Kunst zu erschließen, das Projekt weiterzuentwickeln und dort anzuknüpfen wo wir aufgehört haben.
Foto: Ben Nurgenç
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