Die Suche nach dem Alltäglichen: Künstlerisches Erforschen gesellschaftlicher Realitäten mit autoethnographischen Methoden
Antonia Rehfuess, Theatermacherin und Medienkünstlerin, Stipendiatin bei stART.up
In meiner Arbeit als freiberufliche Theatermacherin des Kollektivs hyper_real wende ich Forschungsmethoden der Autoethnographie an, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu erforschen. Durch die Zusammenarbeit mit sogenannten „Expert:innen des Alltags“ wollen wir gemeinsam Wechselwirkungen zwischen subjektiven Erfahrungen und größeren gesellschaftlichen Realitäten erkennen, diese mit einem Publikum verhandeln und dadurch temporär transformieren.
"Autoethnography is an act of writing and creating that seeks to understand the interplay between the writer's individual experience and the cultural and social contexts in which they live. It is a way of making sense of the everyday and the extraordinary, the personal and the political." – Norman Denzin
Autoethnographie ist eine wissenschaftliche Methode der Sozialforschung. Wie der Soziologe Norman Denzin in seinem Zitat erläutert, dient sie dazu, persönliche Erfahrungen im eigenen Alltag zu untersuchen und in einen größeren kulturellen und sozialen Kontext einzuordnen. Es geht darum, eine Verbindung zwischen individuellen Lebenswelten und gesellschaftlicher Realität zu schlagen.
In meinem Kollektiv hyper_real wollen wir theatrale Rahmen kreieren, um diese Zusammenhänge künstlerisch zu erforschen und für ein Publikum erfahrbar zu machen. Dazu arbeiten mein Kollege Benjamin Böcker und ich mit kollaborierenden Künstler:innen und mit „Expert:innen des Alltags“ zusammen. Dieser Begriff wurde im Theaterbereich besonders durch das Kollektiv Rimini Protokoll geprägt. Es handelt sich dabei um Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und ihres Alltagswissens in bestimmten Themenbereichen eine Fachkenntnis besitzen: Also jede:r von uns!
In unseren Projekten waren und könnten dies beispielsweise Expert:innen des Alltags für Themengebiete sein wie:
- Theaterzuschauer:innen für ihre Rolle als Publikum
- Kinder für das Spielen und die Frage, welche Welt und welche Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens Erwachsene ihnen durch Spielzeuge vermitteln, die diese erfinden und produzieren
- Bürger:innen eines Stadtteils, die ein tiefes Verständnis für die Nutzung, Bedeutung und Codes der dortigen Räume haben, das über das offizielle Wissen hinausgeht und in Widerspruch zu politisch motiviertem Städtebau stehen kann
- Teilnehmende meines Workshops „(Auto)ethnographische Forschung als Methode künstlerischer Praxis“ auf dem Stipendiat:innentreffen 2022 in Ratzeburg, die alle als Teil der Stiftungsgemeinschaft Wissen über die Rahmenbedingungen, Zugänge, Barrieren und Normen der temporären Zusammenkunft hatten
Die eigene Expertise für Alltägliches ist einem selbst oft nicht direkt klar: Alltägliches ist schließlich zur Routine geworden, man muss sich damit nicht mehr bewusst auseinandersetzen. Es sind die alltäglichen Dinge, die uns umgeben und die wir tun: Der Schlüssel verschafft mir Zugang zu meiner Wohnung, die Kirchenglocken, die ich ausblenden kann, während ich die Boombox der Jugendlichen als Lärm empfinde, der Kreis, zu dem wir am Anfang eines Workshops zusammenkommen, oder die Zoom-Verabredungen als nun gebräuchliche Alternative zu einem Treffen vor Ort in Präsenz. Es sind Vorgänge, die für mich normal und selbstverständlich geworden sind.
Wichtig hierbei ist, dass die Erfahrung von Normalität und Selbstverständlichkeit erst einmal eine subjektive ist. Dies wird in Momenten deutlich, wenn etwas nicht meinen Erwartungen oder Vorstellungen entspricht, ich überrascht werde oder auf Probleme stoße.
Wir leben seit jeher in einer diversen und multiperspektivischen Gesellschaft, deren Mitglieder jedoch aufgrund ihrer Positionierung in Bezug auf gesellschaftliche Kategorien wie Gender, Race, Ability oder Class unterschiedlich viel Sichtbarkeit, Deutungshoheit und Handlungsmacht haben. Anhand zahlreicher Beispiele des aktuellen Weltgeschehens zeigt sich, dass der Anspruch darauf zu bestimmen, was „normal“ ist, hochpolitisch ist. Was als Alltag anerkannt wird, welcher Aufenthaltsstatus, welche Lebensmodelle, Bauweisen und Formen des Sprechens beispielsweise als selbstverständlich gelten, spiegelt sich oftmals noch nicht ausreichend in Erzählungen und Geschichten über unser Zusammenleben wider.
Das Alltägliche zu übersehen, es als unwichtig abzutun oder als objektive Wahrheit vorauszusetzen, kann auch dazu führen, dass wir wichtige Zusammenhänge und Prozesse in unserer Gesellschaft und Umwelt übersehen und somit eine unvollständige oder fehlerhafte Vorstellung von der Welt um uns herum haben.
In unserer künstlerischen Kollektivarbeit mit Expert:innen des Alltags steht an erster Stelle, sich selbst wieder Zugang zum eigenen Alltag, ein Bewusstsein über diesen und damit auch über die eigene Perspektive zu verschaffen. Hierfür nutzen wir die Autoethnographie. Durch Methoden der teilnehmenden Beobachtung wie dem Führen von Interviews, Positionierungsspielen, der Dokumentation eigener Erfahrungen durch Schrift, Bild oder Video, Stadtspaziergängen und vielem mehr graben wir nach inkorporiertem Wissen und Gemeinsamkeiten, nehmen angeeignete Gegenstände und Räume in den Blick und schaffen Momente des Heraustretens aus der Gruppe.
Zu meinem Workshop „(Auto)Ethnographische Feldforschung als Methode künstlerischer Praxis“ auf dem Stipendiat:innentreffen 2022 brachten zum Beispiel alle Teilnehmenden einen Gegenstand mit, der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verkörpern sollte. Anhand der Gegenstände stellten wir uns einander vor. Mitgebracht wurde beispielsweise ein Arztkittel, der im Krankenhauskontext auf eine Rolle verweist, die von Mitarbeiter:innen und Patient:innen gleichermaßen erkannt wird, ein Schmuckstück, das für die Trägerin in Zusammenhang mit einer kulturellen Zugehörigkeit steht, oder die Zimmerkarte der Jugendherberge, die Eintritt zu der dortigen, temporären Zimmergemeinschaft ermöglicht.
Zu einem späteren Zeitpunkt des Workshops erforschten wir die Zusammensetzung unserer Workshopgruppe anhand eines sogenannten Statement Walks, den wir in zwei leicht abgeänderten Formen erprobten:
In der ersten Variante teilten wir uns in zwei, einander gegenüberstehende Gruppen auf. Aufgabe war es, ein Statement auszusprechen, das mindestens auf einen selbst zutrifft. Zum Beispiel konnte man sagen: „Ich wohne in Hamburg“, „Ich bin Stipendiat:in/Alumni:ae der Claussen-Simon-Stiftung“, „Ich binde meine Schuhe mit Doppelschleife“, „Ich wurde schon einmal verlassen“, „Ich habe diese Woche noch nicht geweint“, … Alle diejenigen, auf die ein Statement ebenfalls zutraf, wechselten die Seiten. Als Erweiterung war es möglich, sich als Teilnehmer:in selbst etwas herauszufordern, indem man entweder ein Statement fand, von dem man glaubte, dass es nur auf einen selbst zutraf oder auf alle im Raum passte. Entweder lief man dann – gut sichtbar – als einzige Person zur anderen Seite, oder (fast) alle setzten sich in Bewegung. Ein solches Statement kündigte man mit dem Wort „Challenge“ an.
In der zweiten Variante des Statement Walks blieben die Regeln dieselben, aber unsere räumliche Anordnung änderte sich. Anstelle von zwei sich gegenüberstehenden Gruppen standen wir nun alle nebeneinander auf einer Linie. Für ein Statement trat man nach vorne, sagte das Statement, und alle, auf die die Aussage auch zutraf, stellten sich neben die/den Statement-Macher:in.
In der gemeinsamen Reflexion über die beiden Varianten konnten wir festhalten, dass sich die Rezeption der Informationen über die Gruppe durch die unterschiedliche räumliche Anordnung veränderte. Als Beispiel wurde genannt, dass in Variante 1 eine spielerischere Atmosphäre entstand und vor allem das Gehen, die Bewegung im Raum als solche in Erinnerung blieb. Auch war es uns möglich, in die Gesichter der anderen zu sehen, uns zu beobachten und als Gruppe wahrzunehmen. Der deutlichere Auftrittsmoment durch das Heraustreten aus einer Linie in Variante 2 vergrößerte dagegen die Aufmerksamkeit für das Gesagte. Es erinnerte an einen Akt des Gestehens, des Sich-Bekennens.
Spiele wie diese verwenden wir als Methode für unsere partizipative, inhaltliche Forschung. Wenn wir in einem nächsten Schritt daraus eine Aufführung entwickeln wollen, kommt neben den Expert:innen, die das Wissen haben, und uns, die als Theatermacher:innen das kreative Werkzeug mitbringen, ein dritter Akteur hinzu: Das Publikum. Auch dieses Publikum (bzw. Publika) ist keine homogene Einheit, sondern multiperspektivisch. Zusammen stehen wir nun vor der Aufgabe, unsere gemeinsam gesammelten Ergebnisse für sie bzw. vor ihnen zu inszenieren. Und wie sich bereits bei der Reflexion des gleichen Spiels in zwei unterschiedlichen räumlichen Anordnungen gezeigt hat, gibt es dafür zahlreiche Möglichkeiten, die unterschiedliche Wahrnehmungen der scheinbar erst einmal gleichen Information hervorrufen können.
Für den Prozess des Inszenierens verlassen wir also nun die Rolle der teilnehmenden Beobachtung von uns selbst und beginnen zu bewerten:
- Wie stehen wir zu unseren Forschungsergebnissen?
- Wie machen wir unsere Forschungsergebnisse für die Zuschauenden erfahrbar?
- Was an unserem Alltag ist für das Thema unserer Inszenierung bedeutsam, und was wollen wir erzählen?
Dabei denken wir nicht nur an die Theaterbühne. Vielleicht lässt sich unser Inhalt am besten durch eine Videoinstallation erzählen, in der wir uns mittels Green Screen-Technologie in die Räume versetzen, in denen wir bisher noch nicht aufgetaucht sind, es aber gerne würden. Vielleicht müssen die Zuschauenden in Bewegung sein, durch Straßen und über Plätze geführt werden, um die Orte zu hören und zu riechen, über die wir erzählen. Vielleicht beginnt die Aufführung schon beim Kauf der Eintrittskarte, die keine Eintrittskarte ist, sondern eine Hochzeitseinladung.
In unserer letzten Inszenierung arbeiteten wir als hyper_real zusammen mit drei Theaterkollegen:innen und Performer:innen des Theaters tempus fugit in Lörrach. Für die Aufführung „SWAP oder (un)heimlich nah dran“ setzten wir uns als divers-abled Gruppe die Aufgabe, unsere Leben miteinander zu tauschen. Dazu besuchten wir uns gegenseitig in Hamburg und Lörrach und sammelten alltägliche Handlungen, die wir dann an den tatsächlichen Orten reenacteten und fotografisch festhielten. Als Beispiel trugen wir alle mein Fahrrad in den zweiten Stock eines Hamburger Wohnhauses, in dem ich nun nicht mehr wohne, lagen auf Martin Kilwings Bett und schauten YouTube-Videos oder räumten die Waschmaschine in Benjamin Böckers Keller ein.
Gleichzeitig vereinte uns als Gruppe, dass wir alle bereits mehrmals von einer Regie inszeniert worden waren. Wir setzen uns in diesem Zuge damit auseinander, für welche Rollen wir bisher besetzt wurden und für welche nicht: Eine Person von uns wurde schon einmal als Schönheit besetzt, eine als Himmelsstier, eine als Amme... Auch hier reinszenierten wir uns alle in den Rollen. Für das Publika ließen wir offen, wer welche Rolle einmal gespielt hatte.
Denn wir, inklusive uns fünf Performenden auf der Bühne, haben alle Bilder voneinander im Kopf, die stimmen können, es aber nicht immer tun müssen. Als Theatergruppe aus fünf professionellen Theatermacher:innen sind zwei von uns älter als 35, eine Person von uns wohnt alleine, dreien ist es aufgrund von Behinderungen strukturell fast unmöglich zu studieren, und eine von uns ist gerade nicht verliebt bzw. war es nicht zum Zeitpunkt der letzten Aufführung …
Durch Inszenierungen wie diese wollen wir uns zusammen mit unseren Zuschauer:innen über unsere Vorstellungen von der Welt, die sozialen Ordnungen, die wir gebaut haben und aufrechterhalten, inhaltlich und ästhetisch auseinandersetzen. Wir wollen sie erfahrbar und sichtbar machen, sie hinterfragen, sie als gestaltbar und nicht gesetzt erkennen. Wir wollen mit unseren Aufführungen unsere Vorstellungen, Zuschreibungen und subjektiven Wahrheiten nicht bestätigt wissen, sondern ein klein wenig ins Wanken bringen und vor allem erweitern.
Die vielfältigen Methoden autoethnographischer Forschung ermöglichen es mir dabei als Theatermacherin, während eines Probenprozesses auch meine eigenen Lebensrealitäten zu erkennen und zu reflektieren. Dies muss und darf ich in jedem neuen Projekt, in jedem neuen oder scheinbar bekannten Kontext, in jeder neuen Konstellation aus Menschen aufs Neue beginnen. Die Verbindung von autoethnographischer Forschung und künstlerischer Praxis bildet hier für mich die zentrale Vorgehensweise, um Erfahrungswelten und Denkräume zu schaffen, die unsere gewohnten Vorstellungen von Zusammenleben an ihre Grenzen bringen. Dahin, wo uns auf einmal die Fantasie fehlt.
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