#WissensWerte: "Das Zeitalter der Segelboote": Eine Vision zu einer neuen Opernära
Samuel Penderbayne, Komponist, Inhaber des Opernstipendiums der Claussen-Simon-Stiftung 2015-2018
Würde die Corona-Krise zehn Jahre dauern, wäre das Warten auf die Rückkehr des Status quo ante keine Option mehr. Innovation an der Form einer Opernaufführung wäre kein Risiko, sondern gang und gäbe. Wir bekämen einen Schock, der zu einer dezidierten und solidarischen Aktion der beteiligten Parteien führen würde, bis wir uns 2030 in einem fundamental neuen Verständnis der Praxis befänden. Das Publikum der Oper in der Nach-Corona-Zeit bestünde hauptsächlich aus Millennials, und das Überleben der Kunstform läge in ihren Händen.
Wie sähe die Oper in diesem fiktiven 2030 aus? Gäbe es noch die großen Hits, die das Angebot bestimmen? Ihre heiligen Partituren, aus denen wir nur lesen dürfen? Ihre Sänger und Sängerinnen, die ihre Begabung, ihren Fleiß und ihre hohe Sensibilität in eine Handvoll Rollen stecken? Befänden sich die angestellten Musiker der Häuser weiterhin in der Rolle der stimmlosen Ausführenden, die Intendanten in der Rolle der lautstarken Herrscher? Wäre die Welt weiterhin in große und kleinen Bühnen geteilt? Wäre es immer noch eine Kunst für die wenigen, die von den Massen bezahlt wird?
Radikal lokal
Im fiktiven 2030 gäbe es flexible Mikromusiktheater, die mit insgesamt einem bis zu fünf Aufführenden tiefgreifende Erfahrungen möglich machen. Nach der Uraufführung fährt das ganze Werk samt Bühnenbild und Requisiten in einem VW e-Golf auf regionale Tour, um in Kirchen, Aulas und Scheunen zu spielen. Die Oper als Genre ist, wie Charlotte Higgins neulich in The Guardian sagte, „radikal lokal“. Oper als Street Art entsteht – als Artivismus und Happening: partizipativ, diskursorientiert und divers. Die größten Staatstheater geben Topressourcen für kleinste Werke aus, weil die letzten Jahre zeigten, wie breit und tief sie wirken können. Topstars singen Monologabende an Off-Orten. Eine gesamte Neuproduktion auf höchstem Niveau kostet so viel wie die Abendgage eines Tristans der früheren Zeit. Man braucht keinen Tanker, um das Musiktheater des Jahres zu produzieren: Es können seit Langem sowieso nur noch Rennyachten fahren.
Es gibt grenzüberschreitende Musikschaffende, die die Arbeitsaufteilung zwischen Notensatz und -interpretation sowie zwischen dem Schöpfer eines Konzepts und dem Realisierenden eines Konzepts durchdringend verschmelzen. Jeder im Team ist ein Prosumer, der über die Grenzen der Gewohnheit hinaus gefordert ist: Bühnengestaltung und Gesang, Dramaturgie und Komposition, Regie und Regionaltourplanung, Maske und Marketing. Der Auftrag bestimmt in erster Linie die Mischung der Menschen, und er gewährt ihnen eine weitreichende Handlungsfreiheit.
Die Währung der Innovation
Es gibt also einen modernen Markt an flexiblen kleinen Werken von autonomen Teams und Kollektiven, die in der Währung der Innovation zwischen Häusern, Spielstätten und ungewöhnlichen Spielorten verhandeln. Kulturkapital fließt zwischen Haus und freier Szene, befördert durch eine lockere Politik des Staatstheaters als Kulturzentralbank. Deshalb dauert der Opernboom an, angetrieben durch die Kulturmigration der neuen Zielgruppen, die überall entdeckt werden, wo es vorher wenig Möglichkeiten für Oper gab. Wahlkämpfe zur aufstockenden Unterstützung der Oper stoßen auf universellen Applaus. Die Flexibilität der Form macht sie zur Exportindustrie. Die Kultur ist zweifellos systemrelevant.
Die Opernwelt steht Kopf
Würde die Corona-Krise zehn Jahre dauern, wäre die Opernwelt auf den Kopf gestellt. Groß wird klein, drinnen wird draußen, die Tanker zur Segelbootflotte. Die Pyramide wird zum Brunnen, der neue Mineralien an die Oberfläche pumpt, die lange unter der Erde begraben waren. Aus den Mühlen der Meisterwerke, der Gesangsfächer und der Agenturen wird ein hydrophonisches Senkrechtgewächshaus des nachhaltigen Kunstmusikökosystems, das seine Ausläufer in Urban-Gardening-Projekte der Nachbarstädte und -dörfer hinausschickt, um frische Impulse zurückzubekommen. Es formt sich ein Schwarm aus Big-Culture-Data im Hive-Mind des Staatstheaters, wo fleißige Dramaturgen und Dramaturginnen als Bienenköniginnen mithilfe künstlerischer Forschung Erkenntnisse und Ergebnisse ordnen, analysieren, diskutieren und in einem frei zugänglichen Open-Source-Code veröffentlichen. Klingt das nicht hervorragend? Ist das nicht eine Märchengeschichte, die durch Tausende kleine Opern vertont wird?
Wie werden nun unsere Opernhäuser auf die Corona-Krise reagieren? Wird aus Zitronen Limonade gemacht? Oder wird durch künstlerische Abstriche mehr oder weniger das vorgesehene Programm fortgeführt? Wird über unsere Kunstform tiefgreifend reflektiert? Schauen wir nach innen, um statt schwächer doch stärker aus der Krise zu kommen? Ja, Corona ist eine externe Kraft. Aber stellt sie nicht unsere vor der Krise entstandenen Schwächen ins grelle Licht?
Lasst uns die Zeit nutzen, um ein neues Modell auszuprobieren. Lasst uns mit Unternehmergeist und Start-up-Spirit für eine bis zwei Saisons alles auf dem Kopf stellen und das fiktive 2030 ausprobieren. Jede vorher geplante Opernproduktion ist ein Wertstoffhof, den wir in unseren Segelbooten re- und upcyceln können. Lasst uns die Slots der Saison 2020/21 für brandneue Projekte freigeben, die in einen VW e-Golf passen und die mit ein paar Aufführenden und minimalem Bühnenbild von Kreativteams konzipiert werden, die sich bei Arbeitstreffen mit maximal drei Pizzen satt essen können.
Musiktheater für Millennials
Lasst uns bei der Hälfte der Werke einen expliziten Schwerpunkt auf Jugendoper und Musiktheater für Millennials setzen. Lasst uns eine breite Diskussion über das Musiktheater führen und kritisch-konstruktiv über seine Ziele, Ergebnisse und seinen Platz im zunehmend vollen und wettbewerblichen Musikangebot unserer Zeit reden. Die Schlammschlachten auf sozialen Medien reichen nicht – wir müssen einen anderen Weg finden. Lasst uns die Oper mit der künstlerischen Forschung in der Hochschule und mit dem Rundfunk explizit, immanent und strategisch gedacht verbinden, um eine Kulturindustrie mit einem Forschungs- beziehungsweise Pädagogikanspruch und einem professionell-kritischen Sprachrohr auszustatten.
Das Publikum, die Kunstgeschichte, die Mitarbeiter und die Fördernden werden uns verzeihen, wenn wir diese Krise als Experiment der Zukunft wahrnehmen und daran scheitern. Viel schwieriger wird es sein, wenn es in ein bis zwei Generationen keine dynamische und lebhafte Opernszene mehr gibt und unsere Kinder – also diejenigen, die überhaupt noch Oper machen wollen und dürfen – sich fragen, warum früher nicht mehr dafür getan worden ist.
Letztendlich ist das, was mir echte Sorgen bereitet, nicht eine Saison persönlicher Ausfälle, sondern die Befürchtung, dass unsere Kunstform Oper von den Millennials nicht angenommen wird. Ich befürchte nicht, dass Corona die Oper als Genre explosionsartig versenken wird. Der Tanker wird nicht durch eine Kollision mit dem Eisberg, sondern durch Tausende Kleinunfälle unbemerkt beschädigt und dadurch untergehen, bis er nur als eine dekadente Jukebox im kulturellen Atlantis spielt. T. S. Eliot würde sagen: „This is how opera ends, not with a (Corona-)bang, but a whimper.“
Wer, wenn nicht wir? Zu dieser Zeit trägt der deutschsprachige Raum die Fackel des Musiktheatergenres. Wann, wenn nicht jetzt? Die Kunstgeschichte ruft uns in Krisenzeiten zur Innovation auf: Das Zeitalter der Segelboote ist gekommen!
Dieser Text erschien erstmals in: DIE DEUTSCHE BÜHNE 08 | 2020.
Samuel Penderbayne wurde 1989 in Canberra, Australien, geboren. Seit seinem Studium der Komposition in Sydney und bei Moritz Eggert in München lebt und arbeitet der Sänger und Instrumentalist in Hamburg. In seinem Werk verbindet er klassische Musiktradition mit modernen Elementen aus Pop, Rock, Jazz und Elektronik. Er promovierte an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg über die Verbindung moderner Musikgenres mit der klassischen Kompositionstradition. Im April 2018 wurde an der Opera stabile der Hamburgischen Staatsoper sein Musiktheaterwerk „I.th.Ak.A“ in der Regie von Paul-Georg Dittrich uraufgeführt; die Kammeroper entstand im Rahmen des Opernstipendiums der Claussen-Simon-Stiftung, das Samuel Penderbayne von 2015 bis 2018 innehatte. Sein Musiktheater „Die Schneekönigin“ nach Hans Christian Andersen kam im November 2019 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin heraus.
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