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“Da hat es jemand geschafft, der wie ich ist. Dann schaffe ich es wahrscheinlich auch.“
Alexia Soraia Pimenta Gomes Zonca, Horizonte-Stipendiatin und B-You!-Mentorin
„An sich ist es kein Plus und auch kein Minus. Es ist mir aber auch nicht egal.“ Auf die Frage, wie sie zur Migrationsbiografie ihrer Klassenlehrerin stehe, ist das Sudegüls Antwort.1 Sie ist eine von acht Jugendlichen der Klassenstufen 9 bis 11 aus einer Stadtteilschule und einem Gymnasium, die ich als angehende Französisch- und Spanischlehrerin im Rahmen meiner Masterarbeit interviewt habe. Ich wollte dabei herausfinden, ob die Migrationsgeschichte von Lehrer:innen für den schulischen Alltag von Schüler:innen eine besondere Relevanz hat. Und wie Sudegüls Antwort bereits vorwegnimmt, scheinen die befragten Jugendlichen, die selbst eine Migrationsbiografie haben, Unterschiede bei Lehrenden mit und ohne Migrationsgeschichte zu spüren.
Warum ist das Thema aber überhaupt von Bedeutung? Deutsche Lehrer:innen mit Migrationsbiografie sind in den letzten 20 Jahren verstärkt Gegenstand von integrations- und bildungspolitischen Diskursen geworden. Die Analyse der politischen Texte, wie beispielsweise des Nationalen Integrationsplans, der politischen Anträge und der Handlungskonzepte, führt zum Ergebnis, dass mit dem Einsatz dieser Lehrer:innen bestimmte Wirkungen auf Schüler:innen erwartet werden. So soll insbesondere die benachteiligte Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte profitieren: Die vergangenen PISA2-Studien hatten nämlich gezeigt, dass besonders in der Bundesrepublik die Leistungen der Schüler:innen von ihrer sozioökonomischen und ihrer natio-ethnischen Herkunft abhängen. Es wird angenommen, dass Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte für diese Lernenden Vorbilder und Vertraute sein können, sie als Brückenbauer zu den Elternhäusern agieren und sie über besondere interkulturelle Kompetenzen verfügen. Von einer höheren Repräsentanz dieser Lehrkräfte wird erwartet, dass die Leistungen der Schüler:innen mit Migrationsbiografie steigen. Bisher konnte dieser Einfluss jedoch nicht ausreichend empirisch belegt werden. Zwar waren die Lehrkräfte selbst in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand von verschiedenen Forschungen zu ihrem beruflichen Selbstverständnis, die Studien jedoch, die sich mit der Wahrnehmung von Schüler:innen mit Migrationsgeschichte auseinandersetzen, sind sowohl dürftig als auch kaum repräsentativ.
Ausgehend von der Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Erwartungen und dem Forschungsstand zu Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte wollte ich in meiner Masterarbeit diese bislang unterrepräsentierte Perspektive der Schüler:innen mit Migrationsbiografie untersuchen. Mein Ziel war es herauszufinden, ob Lernende mit Migrationsgeschichte der Migrationsbiografie ihrer Lehrkräfte tatsächlich eine besondere Bedeutung zuschreiben und ob die bildungspolitischen Erwartungen mit den Perspektiven der Schüler:innen übereinstimmen. Hierfür habe ich die Schulleitungen von verschiedenen Schulen in Hamburg kontaktiert und mein Forschungsvorhaben geschildert. Ich suchte gezielt nach Schüler:innen, die seit mindestens einem Jahr von einer Klassenleitung mit Migrationsbiografie unterrichtet werden. Insgesamt konnte ich acht Schüler:innen mit Migrationsgeschichte aus zwei Hamburger Schulen in Einzelinterviews zu ihren Klassenlehrer:innen befragen. Der Leitfaden für meine Interviews entstand anhand der bildungspolitischen Erwartungen an Lehrer:innen mit Migrationsbiografie, die ich in die folgenden Kategorien unterteilt habe: K1: Vorbildfunktion; K2: Vermittlerrolle; K3: Mehrsprachigkeit; K4: Interkulturelle Kompetenz; K5: Vertrauensverhältnis; K6: Mutmacher.
Die Ergebnisse der Befragungen legen nahe, dass die politischen Erwartungen sich größtenteils mit den Schüler:innenperspektiven decken. So berichtet eine Schülerin: „Der Wille ist auch größer, wenn man sieht, ok, da hat es jemand geschafft, der wie ich ist. Dann schaffe ich es wahrscheinlich auch“. Für die interviewten Jugendlichen sind ihre Klassenlehrkräfte mit Migrationsgeschichte Vorbilder, Vermittler, Mutmacher und Vertraute und sie profitieren von deren Mehrsprachigkeit und interkulturellen Kompetenz. Die Befunde zeigen aber auch, dass diese Schüler:innen der Persönlichkeit, der sozialen Kompetenz und dem Engagement ihrer Lehrer:innen einen höheren Stellenwert geben als der Migrationsgeschichte. So berichten sie insbesondere von Lehrkräften ohne Migrationsbiografie, die sich in den Schulen sozial engagieren und an das Potenzial der Kinder und Jugendlichen glauben. Anhand der Interviews lässt sich also feststellen, dass Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte die ihnen gestellten politischen Erwartungen erfüllen, aber auch, dass der Großteil dieser Erwartungen grundsätzlich von allen Lehrpersonen erfüllt werden können, da für diese keine migrationsspezifischen Kenntnisse oder Erfahrungen vonnöten sind. Heißt das, dass die Bemühungen, mehr Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte an Schulen zu bringen, eigentlich überflüssig sind? Wohl kaum.
Personen mit Migrationsbiografie sind in Deutschland unter dem pädagogischen Personal an Schulen immer noch unterrepräsentiert. Hingegen haben beinahe 30 Prozent der deutschen Bevölkerung und ebenfalls rund ein Drittel der Schüler:innenschaft eine Migrationsbiografie. Der Zuwachs von Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte würde also zu ihrer Repräsentanz auch in diesem gesellschaftlichen Kontext beitragen und sowohl berufliche als auch kulturelle Stereotype aufbrechen. Zudem verfügt ein beachtlicher Teil der Lehrkräfte mit Migrationsbiografie über Erfahrungen, die andere Lehrer:innen aus dem Kollegium zumeist nicht haben. Sie bringen eine bislang unterrepräsentierte Perspektive in die Schulen, nämlich die der deutschen Bürger:innen mit Migrationsbiografie. Diese ist notwendig, um die Lebensrealität und die Erfahrungen vieler Schüler:innen mit Migrationsgeschichte begreifen zu können, denn nach wie vor ist in Deutschland der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängig, und insbesondere Schüler:innen mit Migrationsbiografie sind von den Risikolagen für Bildung betroffen.3 Die Perspektive von Lehrer:innen, die in ihrer Kindheit und Jugend potenziell ebenfalls von einem niedrigeren sozio-ökonomischen Status betroffen waren, ist also eine besonders wichtige. Auch sollte eine verstärkte Rekrutierung von Lehrer:innen mit Migrationsbiografie als Anerkennung von Personen mit einer Migrationsgeschichte gelten, die dadurch zu einem selbstverständlichen Bestandteil der deutschen Gesellschaft werden. Grundsätzlich sollte es also um die Teilhabe und die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationsbiografie gehen.
Im Buch der Erfahrungen. Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte berichten über Erlebnisse aus ihrem Schulalltag heißt es: „Schülerinnen und Schüler mit und ohne Zuwanderungsgeschichte lernen am besten bei fachlich und sozial kompetenten Lehrerinnen und Lehrern – ob mit oder ohne Migrationshintergrund“ (Hamburger Netzwerk „Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte“, 2016, S. 5)4. Die Bildung der Schüler:innen mit oder ohne Migrationsbiografie in Deutschland ist die Aufgabe aller Lehrer:innen. Um Chancengleichheit an Schulen zu erreichen, bedarf es beispielsweise Diversity-Trainings sowohl während des Lehramtsstudiums als auch berufsbegleitend. Eine Schulreform, die sich an der heterogenen Schüler:innenschaft orientiert, wäre ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
Quellen:
[1] Die Namen der interviewten Personen wurden anonymisiert.
[2] PISA: Programme for International Student Assessment
[3] 1) Risikolage formal geringqualifizierter Eltern, 2) soziale Risikolage und 3) finanzielle Risikolage.
[4] Hamburger Netzwerk „Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte“ (2016). Buch der Erfahrungen. Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte berichten über Erlebnisse aus ihrem Schulalltag. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Hamburg. Verfügbar unter: https://li.hamburg.de/resource/blob/601062/1ca0e01e2b0c5c403b67071892d250a5 /pdf-buch-der-erfahrungen-data.pdf
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